«Das stimmt so nicht.» – Das sagt der Schweizer Militäranalytiker Ralph Bosshard in einem aktuellen Interview mit der Schweizer Wochenzeitung Die Weltwoche zu der weitverbreiteten Behauptung, Russland sei verantwortlich für den Krieg in der Ukraine.
Bosshard ist ehemaliger Oberstleutnant der Schweizer Armee und war hochrangiger OSZE-Mitarbeiter. Er widerspricht im Interview auch der Behauptung, die NATO müsse sich gegen Russland in Stellung bringen. Zugleich warnt er davor, dass die verantwortlichen Politiker der Schweiz «der EU und der NATO etwas blauäugig» hinterherrennen.
Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine erklärt er zu dessen Ursachen:
«Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war es, der das Minsker Massnahmenpaket über den Haufen warf. Dieses sah einen Waffenstillstand vor und war dank der Resolution 2202 des UNO-Sicherheitsrates seit 2015 völkerrechtlich bindend.»
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) habe «die undankbare Aufgabe» gehabt, den russischen Präsidenten Wladimir Putin bei seinem Besuch im Kreml Mitte Februar 2022 davon zu unterrichten, dass Kiew sich nicht mehr an die Verträge halten werde. Bosshard sagt dazu auf Nachfrage, dass er das aus verlässlichen Quellen wisse. Es sei nicht verwunderlich, dass das deutsche Bundespresseamt diese Information dementiere und Scholz damals in seinen offiziellen Statements nichts dazu sagte.
«Scholz will sicherlich nicht breittreten, wie man ihm zum zweiten Mal die Hosen herunterzog. Ein erstes Mal geschah dies, als ihn US-Präsident Joe Biden Anfang 2022 während seines Besuches vor den Augen der Weltöffentlichkeit desavouierte. Biden sagte damals bekanntlich, dass er Wege fände, die Nord-Stream-Pipelines zu sabotieren, sollte Russland die Ukraine angreifen. Der Rest ist Geschichte.»
Der Militäranalytiker weist darauf hin, dass Scholz im Februar 2022 zuerst in Kiew war, bevor er nach Moskau flog. Damals sei auch längst bekannt gewesen, dass die ukrainische Führung nichts unternahm, um die Minsker Vereinbarungen, an denen Deutschland als Garantiemacht beteiligt war, umzusetzen.
«Ob US-Präsident Joe Biden oder Selenskyj Scholz damit beauftragte, Putin diese beunruhigende Nachricht zu übermitteln», sei nicht klar, so Bosshard. «Kanzler Scholz wird sich dazu wohl ausschweigen und das Ganze nicht breittreten.»
Er erinnert ebenso daran, dass Russland Ende 2021 Sicherheitsgarantien von den USA verlangt hatte. Putin habe darauf bestanden, dass die Ukraine kein NATO-Mitglied werde. Darauf sei aber Washington nicht eingegangen.
Stattdessen habe es im Frühjahr 2022 eine Zunahme der Waffenstillstandsverletzungen im Donbass-Gebiet gegeben. «Die Ukraine war nicht mehr bereit, die Vereinbarungen zu akzeptieren», erklärt der ehemalige OSZE-Mitarbeiter, der von 2015 bis 2020 in der Ukraine im Einsatz war. Er schätzt aufgrund seiner Beobachtungen, dass die Kiewer Seite für die Mehrheit der Waffenstillstandsverletzungen im Donbass verantwortlich ist.
«Die Ukrainer behinderten auch die Beobachter der OSZE bei ihrer Arbeit. Sie beschossen Patrouillen der Special Monitoring Mission (SMM) sowie Objekte der zivilen Infrastruktur, Wohngebiete und Schulen. Und sie störten die Drohnen der OSZE und anderes mehr. Das konnten wir nachweisen.»
Bosshard vermutet, «dass in Moskau der Entscheid zum massiven Angriff vom 24. Februar 2022 erst nach dem Besuch von Scholz in Moskau fiel». Die russischen Streitkräfte seien in der Lage, eine Offensive innerhalb einer Woche vorzubereiten, erklärt er. Der Ex-Oberstleutnant beruft sich dabei auf seine Erfahrungen als Gasthörer an der russischen Generalstabsakademie in Moskau im Rahmen der langjährigen schweizerisch-russischen Militärzusammenarbeit:
«Da geht es zügiger zu und her als in den Stäben der NATO und in der Schweiz, wo schon die Stufe Brigade eine Woche für eine Lagebeurteilung braucht.»
Bosshard erklärt ausserdem, dass Russland die Schweiz nicht angreifen könne – aber die NATO sie auch nicht verteidigen könne. Ausserdem könne die Europäische Union die Probleme Osteuropas nicht lösen. Und er sagt:
«In ihrer Geschichte hat die NATO mehr Kriege begonnen als gewonnen.»
Er verweist darauf, dass ukrainische Soldaten sich über die realitätsferne Ausbildung bei der NATO beklagt hätten. Trotz der massiven und umfassenden Hilfe aus dem Westen, von Waffenlieferungen über Ausbildung bis hin zu «massiver nachrichtendienstlicher Unterstützung», einschliesslich der Beteiligung an der Planung von militärischen Operationen, könne die Ukraine ihre Ziele gegen Russland nicht erreichen.
Der Militäranalytiker beschreibt im Interview den Druck, den die USA auf die Schweiz und andere Länder ausüben, sich am antirussischen Konfrontationskurs zu beteiligen.
«Dass US-Botschafter Scott Miller und auch sein deutscher Kollege Michael Flügger in Bern den Auftrag haben, die Schweiz auf Kurs zu halten, ist mir absolut klar. In der westlichen Diplomatie gilt die Schweizer Politik-Elite als schwach.»
Und er fügt hinzu: «Eine neutrale, unabhängige Sicht schätzen die USA nicht.» Das habe er auch in der Zeit bei der OSZE erlebt. Ein Mitarbeiter der US-Botschaft habe versucht vorzuschreiben, was die Schweizer Vertreter zu sagen und zu unterlassen haben.
«Damals fragte mich ein US-Diplomat auch einmal, auf welcher Seite wir Schweizer eigentlich stünden. Ich antwortete ihm, auf der schweizerischen. Das versteht er wohl bis heute nicht. Die US-Politeliten sähen es am liebsten, wenn wir demütig vor ihnen auf die Knie gingen.»
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