Liebe Leserin, lieber Leser,
diese Gesellschaft liebt ihre Alten. Sie ist höchst besorgt, wenn deren Gesundheit bedroht ist. Und sie tut alles Menschenmögliche, um den Müttern und Vätern, Grossmüttern und Grossvätern einen Lebensabend in Zufriedenheit und Wohlergehen zu schenken: Sie garantiert eine Rente, mit der sich’s leben lässt, einen Pflegeplatz in einem bezahlbaren Heim, Pflegekräfte, die nicht nur gut ausgebildet, sondern auch engagiert, geduldig und liebevoll sind. Diese Gesellschaft weiss sehr wohl, wie man mit Menschen umzugehen hat, die ihr Arbeitsleben lang wacker ihren Mann oder ihre Frau gestanden haben – in Firma oder Familie.
Soweit die Illusion.
Realistisch betrachtet lautet die Maxime im Pflegemarkt „trocken, sauber, satt“ – bestenfalls. Denn nicht Moral und Ethik sind das Mass aller Dinge, sondern Gewinn und Verlust. Und solange Zeit und Rendite disproportionale Richtungen einschlagen müssen, wird das auch so bleiben. Heute ein Altenheim zu besitzen, gleicht einer Goldgrube, die für Flöz, Förderband und Verladung selber sorgt. Längst sind Konzerne, Investmentgesellschaften, Finanzfonds und Versicherungen eingestiegen, konkurrieren mit Kommunen und gemeinnützigen Verbänden.
Und alle wollen das Gleiche: Kasse machen. Die Personalkosten gehören gedrückt, die Ausgaben für die Bewohner minimiert. Das schlägt sich in der Pflege nieder. Demütigungen, Beleidigungen und Misshandlungen sind nicht so selten, wie man denkt. Inkontinente Bewohner, die unerträglich lange in ihren Exkrementen ausharren müssen, weil niemand regelmäßig ihre Windeln wechselt. Oder ihre dementen Leidensgenossen, die, weil am Nachtdienst gespart wird, ans Bett gefesselt und mit „Bedarfsmedikation“ (Benzodiazepinen) ruhiggestellt werden. Oder gar jene, die an Nahrungssonden angeschlossen werden, weil die Zeit zum Füttern fehlt. Keinen von ihnen nimmt Vater Staat wahr.
Schon Mitte der 2000er Jahre hatte die Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung schwere Vorwürfe erhoben: Etwa 30 Prozent der Dokumentationen in den Pflegeheimen, die der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) einsieht, seien frisiert. Der Aufschrei der Politik damals war theatralischer Natur und galt dem Wählerpublikum. Geändert hat sich nämlich nichts.
Stattdessen sind unsere Alten heute das Ass im Ärmel der Politiker. Die zur Schau getragene Sorge um sie soll jene disziplinieren, die die Verhältnismässigkeit von Massnahmen und der Zahl der Corona-Toten in Frage stellen.
Fronten härten, Verbalfeuer zünden – das ist das Gebot der Stunde für die Politik. Ein heuchlerisches Unterfangen zu Lasten derer, die nicht nur körperlichen Verfall, Inkontinenz oder Demenz, sondern jetzt auch noch Vereinsamung und Isolation ertragen müssen.
Pfui Teufel.
Es grüsst sie herzlich,
Marita Vollborn
P.S.: Die dritte Folge des Corona-Transition-Podcasts ist online. Sie trägt den Titel "Verknotete Realität oder Knoten im Kopf?" und ist hier hörbar
https://corona-transition.org/spip.php?page=podcast&url=4-neue-episode