Deutschland ist eine anatomische Merkwürdigkeit: Es schreibt mit der Linken und tut mit der Rechten.
Kurt Tucholsky
Liebe Leserinnen und Leser
Ich melde mich aus den Ferien. Deshalb vorweg: Verzeihen Sie mir die wenigen Worte. Gestern war ich an der Demonstration in Berlin, die bereits im Vorfeld verboten worden war. CSD-Demo, das geht in Ordnung. Regierungskritische Demos: ein No-Go in der deutschen Hauptstadt 2021. Die Exekutive scheint grosse Angst vor der Bevölkerung zu haben.
Trotzdem gingen die Menschen zu Tausenden auf die Strasse und zeigten Gesicht. Doch wie gross die Angst der Regierung inzwischen ist, verdeutlichte auch die Polizeitaktik. Diese sah vor, die Demonstranten möglichst vom Berliner Zentrum fernzuhalten. Gegen 11 Uhr formierte sich deshalb in der Nähe von Berlin-Westend ein Demonstrationszug, mehrere Kilometer ausserhalb des Zentrums. Dem Zug schlossen sich in der Folge immer mehr Menschen an.
Und obwohl die Polizei immer wieder versuchte, die Demonstranten am weitergehen in Richtung Brandenburger Tor aufzuhalten, gelangten wir schliesslich bis zur Siegessäule, wo die Wasserwerfer bereits auf uns warteten. Rund um die klassizistische Triumpfsäule hatte die Polizei alles abgesperrt. Denn fest stand: Die Polizei wollte sicherlich vermeiden, dass Bilder von Tausenden Demonstranten unweit des Regierungsviertels die Runde machten. Was ihr gelang. Was ihr nicht gelang: Menschen einzuschüchtern.
Ich begegnete überall couragierten und angstfreien Menschen, die sich von der Polizei nicht mehr einschüchtern liessen, obwohl diese immer wieder rohe Gewalt gegen meist friedliche Demonstranten anwendete. Dies ging so weit, dass Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter für Folter, dazu aufgerufen hat, ihm Zeugenaussagen zuzusenden.
Besonders tragisch: Ein Mitglied der Partei «dieBasis» verstarb nach der Demonstration. Gemäss der Partei sei das Mitglied durch die Polizei zu Boden geworfen worden und später im Spital aus dem Leben getreten. Die Partei bittet, auf eine Instrumentalisierung des Todesfalls zu verzichten, bis dieser aufgeklärt ist.
Ich muss gestehen, dass ich mich nach wie vor schwer tue, die Ereignisse in Berlin einzuordnen und zu verarbeiten. Inzwischen befinde ich mich in Warschau. Hier merkt man nur wenig vom Corona-Irrsinn. Und das tut mir für den Moment gut. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine gute Woche!
Herzlich
Rafael Lutz

Vor der Siegessäule warteten bereits die Wasserwerfer. Foto: Rafael Lutz
Noch ein aktueller Hinweis: In Stuttgart findet gegenwärtig das Contact Impro Festival statt. Nähere Infos finden Sie hier.