Welt-Rad, das rollende,
streift Ziel auf Ziel:
Not – nennt’s der Grollende,
der Narr nennt’s – Spiel ...
Friedrich Nietzsche
Liebe Leserinnen und Leser
Kürzlich wagte ich mich wieder mal aus dem Haus, ein Termin bei der Dentalhygiene erforderte es. Eine telemedizinische Online-Behandlung ist in solchen Fällen leider noch nicht möglich, obwohl die Digitalisierungs-Turbos sicher mit Hochdruck daran arbeiten.
Da ich nun schon mal in der Stadt war, nutzte ich die Gelegenheit für eine kleine Shopping-Tour. Für mich als Unmaskierten regelmässig das Höchste aller Gefühle. Insbesondere wollte ich wieder mal in den tollen Plattenladen, den ich vor 2020 regelmässig aufgesucht habe.
Könnte ich natürlich alles auch im Internet bestellen, was ich dort suche. Aber Online-Handel allein macht ja letztlich auch nicht glücklich.
Mit dem Paar, das den Laden leitet, führte ich früher gelegentlich small talk über wichtige Dinge, wie Musik und Platten. Die Geschäftsführerin, so hatte ich gehört, sei eine begeisterte Nostradamus-Anhängerin, die die Prophezeiungen des Astrologen sehr ernst nehme. «Eine Esoterikerin», dachte ich mir, «sicher eine von uns. Sie wird mich mit offenen Armen empfangen!»
Leider nein. Die Gute sitzt mit FFPPP666-Mundnasenbedeckung (die Ultimative, die wirklich Undurchdringliche) in dem fast menschenleeren Laden. Es ist schwierig für sie zu begreifen, dass ich keine Maske habe und tatsächlich auch keine will.
Aus lauter goodwill krame ich mein ärztliches Attest für sie hervor. Sie glotzt das Stück Papier verdutzt an, als wäre es ein 75-Euro-Schein. Mein Anliegen erzeugt eine besondere Lage lokaler Tragweite, also springt ihr Geschäftspartner zu Hilfe.
«Ah, du kannst keine Maske tragen? Ja weisst du, das ist eben so eine Sache», meint er mit – wie mir scheint – einigermassen aufrichtigem Bedauern. «Ich habe es ein paar mal versucht, Leute mit Attest in den Laden zu lassen. Aber jedesmal, wenn einer ohne Maske reinkam, sind mir die anderen Kunden panikartig rausgestürmt.»
«Sag mir, was du suchst, dann schaue ich nach und bringe es dir», schlägt er vor. Das ist eine akzeptable Lösung für mich. Ich warte derweil brav in der Nische vor den Madonna-CDs, dort, wo sicher kein Kunde hin will (ausser natürlich er sucht den passend prophetischen Pop zur Pandademie).
Die Nostradamikerin examiniert indessen immer noch mein Attest und versucht sehr sachkundig und argwöhnisch, dessen Wahrheitsgehalt zu eruieren. Offenbar erfolglos. Ich nehme ihr den Zettel aus der Hand und drehe ihn um 180 Grad, damit sie das Geschriebene vielleicht auch lesen kann.
Auf die Esoteriker ist also auch kein Verlass, denke ich mir. Nostradamus hat’s halt nicht richtig vorausgesagt. Oder er war kein Massnahmenreflektierer.
Der Abstecher in den Plattenladen war trotzdem ein Erfolg. Ich habe das heissbegehrte Album bekommen. Dessen Titel auf deutsch: «Hier kommen die Tränen». Die kommen mir tatsächlich manchmal bei dieser Musik. Aus Freude.
Herzliche Grüsse
Christian S. Rodriguez