Traumatische Erfahrungen können Risikogene aktivieren und psychische Erkrankungen befördern.
Liebe Leserinnen und Leser,
nachfolgend ein kurzes Gedankenspiel.
Stellen Sie sich eine junge Frau in einem Supermarkt vor, wie sie ihrem üblichen Wocheneinkauf nachgeht.
Plötzlich hält sie inne. Ein übermächtiges, dunkles Gefühl nimmt von ihr Besitz. Ihr Herz stolpert, sie spürt, wie Achselschweiss über ihre Rippen rinnt. Vor ihren Augen verschmelzen Regale, Menschen und Beleuchtung zu flirrenden Farbflecken. Sie atmet stossweise, versucht sich zu beruhigen. Zieht sich die Maske vom Gesicht, um besser Luft zu bekommen, klammert sich an ihren Einkaufswagen.
Herzinfarkt? Schlaganfall?
Nein. Eine Panikattacke.
Es ist nicht das erste Mal. Seit die Meldungen über immer mehr Corona-Infizierte und künstlich beatmete Patienten auf den Intensivstationen nicht abreissen, und die Regierung nun schon zum zweiten Mal einen Lockdown verhängte, häufen sich die Anfälle. Dabei war sie nie besonders ängstlich gewesen.
Corona hat ihr Leben verändert.
Doch sie muss die Angst wegsperren. Sie muss funktionieren. Sie darf nicht krank werden. Sie will ihren Job nicht verlieren.
Die junge Frau in diesem Beispiel ist Single und kinderlos. Sie bringt die Angst also nicht mit in die Familie, sitzt nicht mit aufgerissenen Augen und zusammengepressten Lippen vor dem Fernseher, während ihr Jüngster sie erschrocken mustert. Sie herrscht auch nicht entsetzt ihre Tochter an, die sich ein Bonbon in den Mund schiebt, ohne sich zuvor ein zweites Mal die Hände gewaschen und desinfiziert zu haben. Und trotzdem werden ihre Kinder als Erwachsene womöglich unter Panikattacken leiden, obwohl Corona dann vielleicht längst Geschichte sein wird.
Denn Angst schreibt sich in die Gene ein, so weiß man heute. Was noch vor wenigen Jahrzehnten als Unsinn abgetan wurde, ist Tatsache: Unsere Gene vergessen nicht, was unser Körper durchmachen musste. Schon vor Covid-19 wurden schätzungsweise zwei Prozent aller Deutschen mindestens einmal in ihrem Leben von Angstattacken heimgesucht. Und nicht immer war klar, was sie hervorrief. Denn der Grossteil führte ein Leben wie die meisten anderen Menschen – ohne besonders einschneidende Negativerlebnisse.
Wissenschaftler schätzen den Einfluss des Erbguts auf 50 Prozent.
Es besteht also eine Fifty-fifty-Chance, eine Angsterkrankung zu entwickeln oder auch nicht, wenn unser Vorfahr traumatische Erlebnisse oder nervlichen Dauerstress erfahren musste. „Epigenetik“ nennt sich das 20 Jahre junge Forschungsfeld, das dem Dialog zwischen unseren Erbanlagen und der Umwelt auf den Grund geht. Epigenetische Mechanismen sind es auch, die darüber entscheiden, welche Bereiche in unserer DNA aktiv und welche stillgelegt werden müssen. Sie bestimmen nicht nur über die Funktion von Zellen und Organen, sondern auch darüber, ob wir zu bestimmten Krankheiten neigen, oder ob unsere Psyche stabil ist.
Was also wird unseren Nachkommen hier angetan?
Wie hoch ist der Preis für das abstruse Sicherheitsbestreben, für die angesichts der Corona-Statistiken völlig überzogenen Massnahmen, für Isolation, Einsamkeit und Angst?
Welches genetische Erbe hinterlassen wir?
Die Antwort kennen wir: keines, das wir unseren Kindern und Enkeln wünschen würden.
Es grüsst Sie nachdenklich
Ihre Marita Vollborn