Es gibt eine Melancholie, die mit der Grösse
des Geistes zusammenhängt.
Nicolas Chamfort
Liebe Leserinnen, liebe Leser
Johanniskrauttropfen, Vitamin-Präparate, Downer, Aufputschmittel, Antidepressiva und Psychopharmaka – der Mensch im Jahr 2022 soll fit, durchtrainiert und gut gelaunt sein. Am besten läuft er jeden Morgen 20 Kilometer, trinkt danach seinen Spirulina-Smoothie, macht Intervallfasten, isst kein rotes Fleisch und geht spätestens um 22 Uhr ins Bett.
Wehe dem, der mit rot umränderten Augen und schwarzen Augenringen durch die Weltgeschichte läuft. Zweifel und Melancholie verunsichern unsere Mitmenschen. Ja, der erfolgreiche, gut gekleidete, sexuell attraktive, humorvolle, smarte Alpha-Mensch ist in. Wer im stillen Kämmerchen grübelt und Runde um Runde im Gedankenkarussell verharrt, dem wird empfohlen, mal zum Arzt zu gehen. Denn irgendetwas muss da ja im Argen liegen.
Noch vor 200 Jahren schrieben Wissenschaftler, Philosophen und Schriftsteller darüber, dass die Melancholie zum Leben eines kreativen Menschen dazugehört. Das «Metzler Lexikon Philosophie» bezeichnet die Melancholie als einen durch Schwermut und Tiefsinn, dem Verlust an Selbstvertrauen und dem Mangel an Tatkraft geprägten seelischen Zustand.
Der Begriff der Melancholie ist vom griechischen Wort melancholía (Schwarzgalligkeit) abgeleitet, mit dem die antike Medizin seit dem 5. Jh. v. Chr. einen physiologischen Zustand beschreibt, der durch ein Übermass an «schwarzer Galle» gekennzeichnet sei.
Diese Diagnose gehöre in den Zusammenhang der hippokratischen Humoralpathologie, die als Ursache von Krankheiten ein falsches Verhältnis der vier Säfte des menschlichen Körpers (lat. humores) ansieht, zu denen neben schwarzer Galle (griech. melaina chole), die gelbe Galle (griech. chole), Blut (griech. haima, lat. sanguis) und Schleim (griech. phlegma) gehören.
Der griechische Arzt Galen bringt diese Auffassung im 2. Jahrhundert in Zusammenhang mit der Lehre von den vier Temperamenten. Diese beschreiben nun nicht mehr nur Krisen, sondern grundsätzliche Konstitutionen: der lebhafte Sanguiniker, der aufbrausende Choleriker, der schwerfällige Phlegmatiker und der trübsinnige Melancholiker.
Die Spätantike ordnet der Melancholie als Lebensalter die Reife, als Jahreszeit den Herbst, als Element die Erde, als Qualitäten Kälte und Trockenheit sowie seit dem Mittelalter als Planet den Saturn zu.
Bei Theophrast erfuhr die Melancholie im 3. Jh. v. Chr. bereits eine nachhaltige Aufwertung. Er behauptete, dass alle genialen Politiker, Poeten oder Philosophen Melancholiker gewesen seien. Melancholie habe als Manie (Enthusiasmus) oder Depression einerseits und als Voraussetzung aussergewöhnlicher kreativer oder intellektueller Leistungen andererseits eine ambivalente Erscheinung.
Diese Einschätzung der Melancholie hatte auch noch in der Neuzeit Bestand, während das christliche Mittelalter die Melancholie moralisch verwirft und den morbus melancholicus zur Todsünde der Trägheit (lat. acedia) erklärt.
Später wird die Melancholie allenfalls noch mit Hypochondrie in Verbindung gebracht. Die bekannteste Darstellung der Melancholie ist Albrecht Dürers Melencolia I (1514), zum bedeutendsten Werk der neuzeitlichen Melancholie-Reflexion wird Robert Burtons Anatomy of Melancholy (1621).
Immanuel Kant betrachtet Melancholie als eine besondere Empfänglichkeit für das Erhabene, angesichts dessen das Subjekt in «negativer Lust» seiner realen Ohnmacht innewird. Sigmund Freud definiert Melancholie im Unterschied zur Trauer als einen «dem Bewusstsein entzogenen Objektverlust», durch den nicht die Welt, sondern das Ich als entleert empfunden werde.
Heutzutage verschreiben viele Ärzte schnell Beruhigungsmittel und Psychopharmaka, wenn der Patient angibt, dass er schlecht schläft und ein wenig niedergeschlagen ist. Anstatt den Ursachen für die seelische Verstimmung auf den Grund zu gehen, behandeln Ärzte häufig lediglich die Symptome.
Eine Pille und schon gerät der Patient in einen Zustand der Gleichgültigkeit und Apathie. Wenn sie schon einmal in die Augen eines Menschen geschaut haben, der unter dem Einfluss von Antidepressiva steht, dann wissen sie, wovon ich spreche: ausdrucks- und empathielos. Der Mensch funktioniert, wie ein mechanisches Püppchen, das mit einer Schraube im Rücken aufgezogen wird.
Vielleicht zeigt uns das Beispiel Psychopharmaka, dass wir nicht blind der Schulmedizin vertrauen sollten, die uns weismacht, dass Medikamente die Paradelösung für alles sind. Stattdessen sollten wir wieder öfter einmal innehalten und uns klarmachen, was unser Körper und Geist brauchen.
Dabei ist es meiner Meinung nach keine Schmach, sich gelegentlich seiner Melancholie hinzugeben und sich von der Aussenwelt für eine Weile abzuschotten. Ich denke, es ist nun eine Ära angebrochen, die uns auffordert, nicht nur im Aussen zu verharren, sondern auch gelegentlich den Blick nach innen zu richten.
Herzlich
Lena Kuder
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