Wir brauchen aber die Bücher,
die auf uns wirken wie ein Unglück,
das uns sehr schmerzt,
wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns,
wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden,
von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord,
ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.
Franz Kafka
Liebe Leserinnen und Leser
Während meines Studiums konnte ich mich nie recht entscheiden, welches Fach mein liebstes war: Literatur(wissenschaft) oder Philosophie. Oberflächlich betrachtet passen die Studienfächer gut zueinander, schliesslich geht es jeweils um Texte und man liest halt viele Bücher.
Allerdings ist die Herangehensweise geradezu gegensätzlich. Ganz grob heruntergebrochen geht es in der Philosophie um «Wahrheit», um das «Was ist?» und das «Warum ist etwas so wie es ist?». In der Literatur hingegen geht es um den «Schein», um die gut erzählte Geschichte, das «Wie ist der Text gemacht?», um Fiktion. In der Fachsprache spricht man auch von mythos und logos.
Es gibt jedoch Überschneidungen und nicht zufällig gab es immer wieder Autoren, die in beiden Bereichen zu Hause waren. Nicht selten ist grosse Philosophie auch gute Literatur und/oder umgekehrt. Ein paar Beispiele dafür sind etwa (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Platon, Denis Diderot, Heinrich von Kleist, Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Franz Kafka.
Bestimmte Fragen und Themen, so scheint es, lassen sich nur mit der Freiheit, Kreativität und Darstellungsfülle fiktionaler Texte behandeln. Und nicht etwa durch eine streng «wissenschaftliche» Abhandlung. (Die ästhetischen Zumutungen heutiger wissenschaftlicher Artikel, auch und gerade in den Geisteswissenschaften, wären da nochmal ein Thema für sich.)
Zum C-Thema ist mittlerweile eine Fülle von Büchern erschienen, allerdings nur sehr wenige im Bereich der Belletristik. Eines davon ist die bereits im letzten Jahr im Loco-Verlag erschienene Novellen-Sammlung «Der verlorene Himmel» von Volker Mohr.
Das Interessante und geradezu Geniale an den Novellen Volker Mohrs ist die Tatsache, dass «Corona» mit keinem Wort erwähnt wird, aber jede einzelne Geschichte den Geist respektive den Schatten der Corona-Zeit in sich trägt. Jede einzelne Geschichte ist eine eigenständige und doch mit den anderen Geschichten verbundene Dystopie. Aus dem Harmlosen erwächst Stück für Stück das Bedrohliche, das schwer zu fassen und doch allgegenwärtig ist.
In der Novelle «Die Clowns» etwa tauchen plötzlich überall in der Nähe des Protagonisten seltsame und geradezu bösartige Clowns auf – und schliesslich wird eine «Nasenpflicht», also eine Pflicht zum Tragen einer roten Clownsnase eingeführt:
«Die Nasenpflicht, die sich schnell herumsprach, erwies sich als guter PR-Gag. Überall, in Kaufhäusern, an Kiosken, in Spielzeuggeschäften, Papeterien und Schönheitssalons, ja selbst in Banken, Bäckereien, an Fahrkartenschaltern und an manchen Tresen von Gaststätten gab es die Nasen zu kaufen. (...)
Arensberg hätte das alles hingenommen oder besser gesagt stillschweigend darüber hinweggesehen, wären da nicht die als Clowns verkleideten Türsteher gewesen.»
Vor der Corona-Zeit wären diese Geschichten genauso gute Literatur gewesen, doch hätte man sie für komplett dystopisch gehalten. Nun bleibt einem immer wieder das Lachen im Halse stecken. Man kann also sagen: Das Buch ist trotz der parabelhaften Bezugnahme auf die Corona-Zeit im besten Sinne zeitlos.
Unverkennbar ist für die Novellen auch Franz Kafka ein Vorbild gewesen, doch es gibt noch einige weitere intertextuelle Bezüge. Allerdings will ich Sie nicht mit literaturwissenschaftlichen Abhandlungen behelligen ...
Mein Fazit: Eine klare Leseempfehlung!
Herzliche Grüsse und geniessen Sie den Sommer
Susanne Schmieden
P.s.: Wer lieber zuhört als liest, kann hier zwei der Novellen anhören.
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