Ich kann freilich nicht sagen,
ob es besser werden wird, wenn es anders wird;
aber so viel kann ich sagen,
es muß anders werden, wenn es gut werden soll.
Georg Christoph Lichtenberg
Liebe Leserinnen und Leser
Willkommen im Jahr 2024! Das ist nun auch schon wieder fast zwei Tage alt. Aber noch in einem gewissen Dämmerzustand. Hier in der Schweiz mag das damit zusammenhängen, dass auch der 2. Januar ein Feiertag ist, jedenfalls ein bisschen: Heute ist nämlich der sogenannte Berchtoldstag.
Viele Leute arbeiten an diesem Tag nicht, Banken haben geschlossen. Viele grössere Geschäfte hingegen haben geöffnet. Dieses Durcheinander und die Vagheit, mit der das geregelt ist, entspricht der Zeitqualität, die einen Tag nach Neujahr ohnehin meistens vorherrscht: Man hat noch eine kleine Gnadenfrist, bis der neue alte Wahnsinn dann wieder voll hereinbricht. Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm.
Genauso lautet auch der Titel eines Theaterstücks von Theresia Walser, dass ich zwischen den Jahren in Mainz angeschaut habe. Hier die Kurzbeschreibung:
«Drei Schauspieler bereiten sich auf eine Podiumsdiskussion vor, in der es um die Darstellbarkeit Hitlers gehen soll. Da der Moderator noch nicht da ist, plaudern sie auf leerer Bühne über ihr Metier und landen gleich bei einem Grundproblem: Ist die Bühne wirklich leer? Steht sie nicht immer schon voller Fragen, bevor man sie überhaupt betreten hat? Zwei der Männer haben Hitler bereits gespielt, der dritte war bisher nur Goebbels, das alles aber im Film. Würde das Theater ganz andere Anforderungen an sie stellen?»
Das klingt amüsant, politisch und philosophisch zugleich. Und das war es auch. Obwohl man das Stück wohl noch in die Kategorie «zeitgenössisches Theater» einordnen würde (es ist aus dem Jahr 2006), habe ich mich gefragt, ob das heute noch jemand so schreiben würde: Offenkundig würde es heute als politisch unkorrekt gelten. Denn es werden teilweise auch moralisierende Haltungen und Interpretationen von Theater persifliert.
Ein uraltes Thema im Grunde, eigentlich so alt wie das Theater selbst: Was und wen kann, darf, soll Theater darstellen? Wie soll es darstellen? Darf respektive soll Theater politisch sein? Muss es «moralisch» sein? Und so weiter.
Friedrich Schiller schliesslich hat die Bedeutung des Theaters und des Spiels überhaupt für die ästhetische Erziehung des Menschen hervorgehoben. In seinem berühmten Fünfzehnten Brief seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen heisst es:
«Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet? Was Sie, nach Ihrer Vorstellung der Sache, Einschränkung nennen, das nenne ich, nach der meinen, die ich durch Beweise gerechtfertigt habe, Erweiterung. Ich würde also vielmehr gerade umgekehrt sagen: mit dem Angenehmen, mit dem Guten, mit dem Vollkommenen ist es dem Menschen nur ernst, aber mit der Schönheit spielt er.»
Bei aller Wichtigkeit der politischen Ereignisse, der Kenntnis des Zeitgeschehens und auch der politischen und moralischen Einordnung derselben bleibt es doch wichtig, der Ästhetik, der Schönheit, der Kunst (nicht dem Kunstbetrieb!) genügend Raum zu geben. Ästhetik und Spiel, Kunst und Schönheit sind kein Luxus, sondern essentiell für das Menschsein.
Und die Beschäftigung mit den im besten Sinne zeitlosen Themen des Theaters, der Literatur und der Kunst kann auch eine gute Grundlage bilden, um die kommenden Stürme ruhig und gelassen zu überstehen. Denn die tagespolitischen Themen werden uns – so hoffe und befürchte ich gleichermassen – auch in diesem Jahr nicht ausgehen.
Noch einmal Schiller:
«Mit einem Wort: indem es mit Ideen in Gemeinschaft kommt, verliert alles Wirkliche seinen Ernst, weil es klein wird, und indem es mit der Empfindung zusammentrifft, legt das Notwendige den seinigen ab, weil es leicht wird.»
Ich wünsche Ihnen jedenfalls ein Jahr im Gleichgewicht zwischen Spiel und Ernst, Idee und Wirklichkeit, Leichtigkeit und Notwendigkeit. Und noch ein bisschen Ruhe vor dem nächsten Sturm.
Herzlich
Susanne Schmieden
***********************
Hinweise:
Herzlichen Dank an alle, die Transition News treu unterstützen und damit unsere Arbeit und Unabhängigkeit erst ermöglichen!
***********************

Hier finden Sie unsere neuen Podcasts.
***********************

Transition TV, Sendung vom 30. Dezember: «Gewissensprüfung zum Jahreswechsel»
- Die Gewissensprüfung zum Jahresende 2:27
- Eine grosse Meditation will einen messbaren Friedenseffekt erzielen 9:22
- Im Gaza-Streifen werden erste Grundstücke an Siedler verkauft 38:01
- Die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen wird von der UNO bestätigt 39:25
- Warum gibt Putin gerade jetzt zu, naiv gewesen zu sein? 40:48
- 2024 bringt eine Rekordzahl von Wahlen und vermutlich grössere Umwälzungen 44:11
- Rückgrat und Lebensfreude: Was wir von Marlis Betschart lernen können 46:52
Redaktion und Moderation: Christoph Pfluger
Sie finden uns auf folgenden Kanälen und Plattformen:
Telegram│Rumble│Facebook│YouTube
***********************

Intelligent – kann Maschine Mensch sein? Ausgabe 175 des Zeitpunkt
Der Mensch hat eine Tendenz, sich als biologische Maschine zu sehen und «intelligenten» Maschinen menschliche Züge zuzuschreiben. Die damit verbundene Abwertung des Menschlichen ist die Hauptgefahr der künstlichen Intelligenz. Diese Ausgabe zeigt, wie wir diesen Gefahren begegnen und wo die Chancen der KI liegen.
***********************