Ob bekannt oder unbekannt, ob mutig ein ganzes Leben oder nur einen kühnen Augenblick lang, Hunderte von Bürger (…) haben erlebt (…), was es «kostet», wenn man – um mit Gonzague de Reynold zu sprechen – «in diesem Lande der Freiheit» eine «negative Kritik» formulieren oder gar in die Tat umsetzen will.
Jean Ziegler, ehemaliger SP-Nationalrat
Liebe Leserinnen und Leser
Lassen Sie mich heute mit einer persönlichen Anekdote starten: Ich erinnere mich noch gut, als Weltwoche-Verleger und SVP-Nationalrat Roger Köppel 2019 im Rahmen seiner Ständeratskandidatur in über 160 Zürcher Gemeinden seine Wahlkampftournee abhielt.
Als Zürcher Oberländer/Tössthaler-Lokaljournalist, der ich damals war, hatte ich den Auftrag, einen Bericht über seinen Auftritt in Bauma zu schreiben und Köppel mit kritischen Fragen zu konfrontieren.
Während rund zwei Stunden polterte er im Tösstal gegen die Grünen, «die bis in die Kühlschränke hineinregieren», gegen die «Weltuntergangspropheten» und die «EU-Turbos» und die «Pöstli-Jäger». Mit Letzterem waren die Ständeräte Daniel Jositsch (SP) und Ruedi Noser (FDP) gemeint, gegen die Köppel im Wahlkampf später unterliegen sollte.
In politischer Hinsicht war ich, der eher von links kam, mit den meisten Ansichten nicht einverstanden – auch heute bin ich in Wirtschafts- und Migrationsfragen weit weg von Köppel. Aber das war und ist nicht der entscheidende Punkt. Doch davon gleich mehr.
Nun hat Köppel Ende letzte Woche bekannt gegeben, dass er im kommenden Herbst auf eine weitere Kandidatur verzichten wird. In den grossen Schweizer Medien herrscht überwiegend Freude. Die SVP habe inzwischen einsehen müssen, dass Köppels Äusserungen zum Krieg in der Ukraine mehr schaden als nutzen, so der Tenor.
«Zuletzt verspielte Köppel mit seiner ausgeprägten Putin-Nähe viel politisches Kapital. Die Lust an der Provokation, der reflexartige Bezug der alternativen Meinung kippte ins Bizarre», schrieb etwas Raphaela Birrer vom Tages-Anzeiger.
Birrer zufolge seien die «glühenden Verteidigungsreden für den russischen Angriffskrieg» von Köppel für die Partei zusehends zum Problem geworden. Ob dem in der Realität so ist, sei einmal dahingestellt.
«Die Schweiz hat einen SVP-Politiker verloren, aber einen unabhängigen Intellektuellen gewonnen», kommentiert Klaus J. Stöhlker den Entscheid auf Inside Paradeplatz.
Was auffällt: Köppel polarisiert in der Schweiz wie kaum ein anderer Politiker. In den Kommentarspalten findet ein regelrechter Kleinkrieg zwischen Köppel-Befürwortern und -Gegnern statt. Weite Teile der etablierten Politiker und Medien scheinen angesichts des angekündigten Rücktritts erleichtert zu sein. Ich sehe das jedoch anders.
Ich muss gestehen: Schon 2019 war ich zumindest beeindruckt, wie Köppel durch die Gemeinden zog. Sein Ding machte. Seine Standpunkte ohne Rücksicht auf Verluste verteidigte und dabei – und das ist das Wichtigste – eine Debatte auslöste. Und zwar zu zentralen Themen wie dem EU-Rahmenvertrag und der Klimapolitik.
Genau das braucht es. Streitkultur und Diskussion sind der Sauerstoff einer Demokratie. Oder wie es der Schauspieler und Kabarettist Uwe Steimle sagt:
«Gedankenfreiheit ist die Hauptschlagader der Demokratie. Wenn die beschädigt wird, droht der Infarkt. Und in einer Gesellschaft, die anfängt, ihre Kasper zu köpfen, liegen die Nerven offensichtlich blank.»
Es braucht zwingend Politiker, die auf Missstände aufmerksam machen. Und hier gibt es in Bundesbern leider nur wenige. Man denke nur daran, wie die Schweiz seit Beginn der Eskalation des Ukraine-Kriegs mit dem russischen Angriff 2022 mehr und mehr ins NATO-Lager rückt – und Gefahr läuft, Kriegspartei zu werden.
Welcher Schweizer Politiker hält hier eigentlich noch dagegen? Wer ist hier fähig, der Regierung weiterhin kritisch und mit Entschlossenheit auf die Finger zu schauen und eine Debatte auszulösen? Neben Roger Köppel fallen mir da leider nicht sehr viele Namen ein.
Denn klar ist: Der Druck ist gewaltig. Wer sich heute für Diplomatie, Verhandlungen und Neutralität einsetzt, läuft Gefahr, «moralisch» ausgebürgert zu werden.
Während des Kalten Krieges warfen Bürgerliche den linken Politikern vor, als «fünfte Kolonne» der Sowjetunion zu dienen. «Moskau einfach!» So lautete der Vorwurf, den sich zum Beispiel der einstige SP-Nationalrat Jean Ziegler regelmässig anhören musste. Auch er gehörte stets zu den wenigen «Dissidenten» im Parlament, die den «Gottesdienst» störten. Auch er polarisierte wie kaum ein zweiter Politiker im Land.
Dabei steht fest: Diese Störenfriede sind heute wichtiger denn je. Es braucht die «Häretiker», die «Ungläubigen», welche die Zelebrierung des Kults stören. Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Wahlen im Herbst kann man nur sagen: «Kritiker, vereinigt euch und mischt die Parlamente auf!»
Herzlich
Rafael Lutz
[email protected]
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- Wo soll man ansetzen, um den wachsenden Totalitarismus aufzuhalten. Antworten von Jimmy Gerum vom Leuchtturm ARD.
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Redaktion und Moderation: Christoph Pfluger
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