Ich bin kein Marxist.
Karl Marx
Liebe Leserinnen und Leser
Seit 2022 vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht pausenlos mit antirussischer Propaganda berieselt werden. Selenski ist ein Held, Putin der neue Hitler – so das vereinfachte Bild. Wer es in Frage stellt, bekommt Probleme.
Der Chorgesang darf nicht gestört werden. Ansonsten gilt man im «freien» Westen als Störenfried, als Häretiker. Und wer sich selbst ein Bild von Russland machen will, der ist nicht mehr weit davon entfernt, zu einer Persona non grata zu werden.
Genau das aber hat Roger Köppel, Enfant terrible des helvetischen Journalismus, jüngst getan. Der Weltwoche-Chefredaktor und SVP-Nationalrat reiste für wenige Tage nach Moskau.
Journalisten oder Politiker, die sich in den letzten Monaten gen Osten bewegten, landeten meistens in der Ukraine. Von dort aus vermittelten sie dem heimischen Publikum dann jeweils die Sicht des Selenski-Regimes. Warum also nicht einmal die «andere Sicht» einnehmen, ganz nach dem Motto der Weltwoche.
Was spricht dagegen, sich sein eigenes Bild zu machen? Schliesslich werden wir seit Monaten ohnehin tagtäglich mit negativen Berichten aus Russland bombardiert. Offenbar vieles: Zumindest die Reaktionen der Schweizer Kultur- und Journalismus-Szene lassen diesen Eindruck entstehen.
WOZ -Reporterin Anna Jikhareva kritisierte Köppel dafür, «Propaganda-Selfies aus der Diktatur» zu verschicken. Ein No-Go: Schliesslich sitzen Regime-Gegner in Russland im Knast. Ähnlich klang es bei den Komikern Viktor Giacobbo und Mike Müller.
«Das hat sich Köppel auf seiner peinlichen Influenzerreise nach Moskau nicht getraut: Solidarität mit dem einzigen nennenswerten Oppositionellen zu zeigen», schrieb Giacobbo mit Verweis auf Alexei Anatoljewitsch Nawalny, den derzeit hinter Gittern sitzenden Oppositionellen.
Und Mike Müller weiss auf Twitter über Köppels Russland-Besuch zu berichten: «Kindsentführungen und Massenvergewaltigungen nicht nur vom Hörensagen, sondern von ganz Nahem.»
Auffällig ist: Von den gleichen Leuten hat man in den vergangenen Monaten erstaunlich wenig Kritik am Selenski-Regime vernommen. Dabei ist der ukrainische Präsident auch nicht gerade als «lupenreiner Demokrat» bekannt.
Immerhin hat Selenski fast alle oppositionellen Parteien verboten. Und Regime-Gegner leben in der Ukraine auch nicht gerade ungefährlich – einmal sehr zurückhaltend ausgedrückt.
Dass die Kritik an Köppels Russland-Reise besonders von sogenannten «Linken» kommt, ist bemerkenswert. Waren es doch gerade bürgerliche Politiker und Journalisten, die im Kalten Krieg keine Gelegenheit ausgelassen hatten, um «Moskau-Wallfahrer» zu diskreditieren. Linke Bürger, die es wagten, hinter den Eisernen Vorhang zu reisen, wurden rasch einmal als Gefahr dargestellt.
Das ging so weit, dass linke Schweizer Teilnehmer der Weltjugendfestspiele in Moskau im Sommer 1957 als regelrechte «Staatsfeinde» behandelt wurden. Als diese am 11. August zurückkehrten, entlud sich bei der Ankunft am Bahnhof Enge die Gewalt gegen die Festivalrückkehrer.
«Schlönd die Sauchaibe z’tod!», riefen die antikommunistischen Demonstranten. Sie prügelten ohne Rücksicht auf Verluste auf die Moskau-Rückkehrer ein, zündeten ihr Gepäck an, eine junge Frau wurde bis kurz vor der Abfahrt der Bahn auf die Gleise gedrückt.
Es gäbe hier noch einige weitere Beispiele zu nennen. Weil ich vor einigen Jahren hierzu ein Buch verfasst habe, ist mir das Thema nicht ganz unbekannt.
Das Beispiel von Köppels Russland-Reise zeigt exemplarisch: Selbstgerechte Linke, die sich mit der neoliberalen und kriegerischen Politik der letzten Jahrzehnte arrangierten, haben inzwischen in vielen kulturellen Bereichen die Deutungshoheit erlangt.
Links scheint das neue Rechts zu sein. Intoleranz, Diskussionsverweigerung und Verbotskultur kommt heute, so traurig es ist, vor allem von «links».
«Marx wäre heute konservativ», schreibt die Philosophin Elena Louisa Lange und argumentiert, dass die heutigen Linken die Ideen des radikalen Gesellschafskritikers und Ökonomen Karl Marx verraten hätten.
Eine steile These, die womöglich ein wenig übers Ziel hinausschiesst. Die Antwort darauf, ob sie zutrifft, überlasse ich ihnen.
Klar ist: Diskussionswürdig ist Langes Position allemal. Und das Diskutieren müssen wir, liebe Leserinnen und Leser, gerade in den heutigen Zeiten dringend wieder lernen.
Herzlich
Rafael Lutz
[email protected]
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