Lesen ist Denken mit einem fremden Gehirn.
Jorge Luis Borges
Liebe Leserinnen und Leser
Heute geht es einmal um Sie. Nein, nicht um Sie persönlich, sondern um Sie als Leserinnen und Leser. Auch wenn das vielleicht zunächst einmal trivial erscheint: Sie können lesen! Herzlichen Glückwunsch!
Ich nehme an, die meisten von Ihnen konnten das bereits mit 6 Jahren ein wenig, spätestens aber mit 10 Jahren einigermassen flüssig. Entweder haben Sie es in der Schule gelernt oder durch Eltern, Grosseltern, Geschwister. Oder – im Idealfall – durch beides zusammen.
Offenbar hat sich an der kulturellen Selbstverständlichkeit des Lesenkönnens etwas verändert. Die Presse ist seit einigen Tagen alarmiert und offensichtlich ratlos: Die aktuelle deutsche «Iglu-Studie» hat ergeben, dass «ein Viertel der Grundschüler/innen nicht den erforderlichen Standard der Lesekompetenz erreicht», wie zum Beispiel ein Online-Bildungsmagazin berichtet.
Nun ja, das ist in der Tat einigermassen verheerend. Und wenig verwunderlich, nach drei Jahren «Pandemie»-Terror und Jahrzehnten von missglückten «Bildungsreformen». Die Wortwahl der sogenannten Bildungsexperten macht es allerdings nicht besser: Was, bitteschön, soll «Lesekompetenz» sein? Warum sagt man nicht klar und deutlich: «Die Kinder können nicht lesen»? Vermutlich würde das erst recht Irritationen auslösen.
Und die «Lösung», die im obigen Artikel angeboten wird, spricht ebenfalls Bände: Ein «Vorschuljahr» zur Vorbereitung auf eine Schule, die offenbar ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Und die obendrein, nach über 20 Jahren Reformstress, auch kaputtgespart und -reformiert ist. Mit anderen Worten: Mehr vom gleichen Falschen soll Abhilfe schaffen.
Mittlerweile kommt bei mir in solchen Fällen der Verdacht auf, dass es gar nicht darum geht, die Verhältnisse zu verbessern, sondern eher ums Gegenteil. Es werden noch mehr Probleme geschaffen und dadurch noch mehr Bedarf an «Hilfen» und (nicht vorhandenem) Personal erzeugt, wodurch wiederum ein lukratives Geschäftsfeld generiert und aufrechterhalten wird. Wo kämen wir auch hin, wenn Kinder einfach so lesen lernen würden, ohne kosten- und zeitintensive Interventionen aller möglichen Akteure?
Aber zurück zur «Lesekompetenz»: Laut OECD ist damit die Fähigkeit gemeint, «geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen».
Lesen wird demnach ausschliesslich instrumentell verstanden. Kein Wort davon, dass Sprache und Literatur immer auch Teil einer Kultur und damit eines geistigen Erbes sind. Kein Wort davon, dass Literatur eine Kunstform ist, die uns einen anderen Blick auf die Welt ermöglicht als beispielsweise Sachtexte das tun. Und auch kein Wort davon, dass man mit geschriebenen Texten Manipulation und Propaganda betreiben kann, wenn man es mit wohl «lesekompetenten», dennoch aber ungebildeten Lesern zu tun hat.
Ein gutes Buch hingegen lehrt einen das Lesen und das Denken geradezu nebenbei: Ich habe recht früh lesen gelernt, und zwar einigermassen anstrengungslos (im Gegensatz zu anderen Dingen, die dann in der Schule auf mich zu kamen ...). Das lag wohl daran, dass mich gut erzählte Geschichten und immer auch schon wissenschaftliche Fragen interessiert haben.
Wirklich gute Bücher bringen uns auch dazu, uns mit den Gedanken eines anderen zu beschäftigen. Gleichzeitig führen sie dazu, dass wir unsere ganz eigenen Gedanken entwickeln. Im Grunde ist das geradezu magisch. Und diese Fähigkeiten und Erfahrungen den kommenden Generationen vorzuenthalten, indem man sie mit fragwürdigen pädagogischen Methoden und Überzeugungen traktiert, das ist ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft.
In diesem Sinne: Lesen Sie mal wieder ein gutes Buch. Und wenn Sie Kinder in Ihrer Umgebung haben, lesen Sie ihnen vor.
Aber bitte vergessen Sie nicht, auch Transition News weiterhin zu lesen. Wir bemühen uns, Ihnen auch hier erkenntnisreiche Leseerfahrungen und handfeste Informationen zu liefern.
Herzlich
Susanne Schmieden
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Redaktion und Moderation: Christoph Pfluger
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