Hungersnöte geschehen nicht in Ländern mit einer freien Presse.
Denn Hungersnöte resultieren aus einem Problem der Verteilung
von Nahrung, nicht aus einem absoluten Mangel an Nahrung.
Eine freie Presse würde für so einen Aufruhr sorgen, dass die
Regierung entsprechend handeln würde.
Amartya Sen
Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Das Thema Gendern und andere Formen der Diskussion um einen nicht herabsetzenden oder benachteiligenden Gebrauch von Sprache haben geradezu Hochkonjunktur. So wird allen Ernstes sogar darüber debattiert, ob es rassistisch sei, grosse Hintern zu mögen.
Und die Stanford University hat kürzlich einen Leitfaden für «schädliche» Wörter veröffentlicht, die sie aus ihrem Online-Angebot entfernen möchte, wie etwa die New York Post berichtete.
Quelle: nypost.com
Das Ganze geht so weit, dass die Eliteuniversität sogar Termini wie «Amerikaner» («American»), «Grossvater» («grandfather»), «Prostituierte» («prostitute»), «tapfer» («brave») und «Meister» («master») auf ihren Index der «schädlichen Sprache» gesetzt hat, weil sie «behindertenfeindlich, sexistisch oder rassistisch» seien.
Als Grund dafür, den Begriff «Amerikaner» nicht mehr zu verwenden, wird angeführt, dass es 42 Länder in Amerika gebe und dieser Terminus impliziere, «dass die USA das wichtigste Land in Amerika» seien. Stattdessen sollte man «US-Bürger» («US citizen») sagen.
Beim Begriff «Grossvater» («grandfather») wird argumentiert, er gehe auf die «Grossvaterklausel» («grandfather clause») zurück, die von den Südstaaten zur Verweigerung des Wahlrechts für Schwarze eingeführt wurde. Er sei durch «legacy status» zu ersetzen, was so viel wie «Altstatus» oder «Erbstatus» bedeutet und doch ziemlich kryptisch klingt.
Und statt «Prostituierte» solle man «Person, die in der Sexarbeit tätig ist» sagen. Begründung: «Die Verwendung einer Sprache, die die Person in den Mittelpunkt stellt, hilft dabei, Menschen nicht nur über eines ihrer Merkmale zu definieren.»
Die Diskussion darüber, inwiefern Sprache für ungerechte oder benachteiligende Vorstellungen in unseren Köpfen sorgen könnte, gibt es wohlgemerkt schon seit geraumer Zeit. Erinnern wir uns nur an das Buch «Das Deutsche als Männersprache» von der Konstanzer Linguistin Luise F. Pusch aus dem Jahre 1984. Es gilt für das Deutsche als die erste Monographie der feministischen Linguistik.
Es gibt auch einen Wikipedia-Eintrag zu diesem Werk. Darin heisst es:
«Das Ziel der feministischen Sprachkritik ist es, gleiche Chancen des Gemeintseins und Identifiziertwerdens für Frauen und Männer zu erreichen, um damit auch mit zur Veränderung der Realität beizutragen. Denn Sprache ist nicht nur Ausdruck eines bestimmten Bewusstseins, sondern die Sprache prägt auch Bewusstsein und erzeugt Wirklichkeit.»
Und an anderer Stelle lesen wir bei Wikipedia: «Bereits im 19. Jahrhundert entwickelte sich für paarige Personenbezeichnungen eine verkürzende Schreibweise mit Klammern, bei der die weibliche Wortendung eingeklammert an die männliche Bezeichnung angehängt wird: Lehrer(innen). Ab den 1940ern verbreitete sich die Schreibweise mit Schrägstrich plus Bindestrich: Lehrer/-innen.
Ab den späten 1970er Jahren entwickelte die Feministische Linguistik das Konzept der ‹geschlechtergerechten Sprache› und passende Formulierungsmöglichkeiten, um Frauen auch sprachlich gleich zu behandeln (...) 1981 war der Vorschlag aufgekommen, den Schrägstrich mit dem nachfolgenden kleinen ‹i› zum Grossbuchstaben ‹I› zusammenzuziehen, als ‹Binnen-I› bezeichnet: LehrerInnen.»
Doch mit dem Gendersternchen hat die Diskussion darüber, ob und wenn ja das Deutsche für ungerechte Vorstellungen oder Bilder in den Köpfen der Menschen sorgt, eine neue Dimension erreicht. Allein das abgehackte Aussprechen von Wörtern wie «Polizist*innen» oder «Richter*innen» stösst vielen Menschen sauer auf.
Und Tim Hirschberg, Linguist und DAAD-Lektor an der Beijing Foreign Studies University in China, geht in seinem Beitrag «Der fundamentale Irrtum der Gendersprachbewegung» für die Welt sogar so weit zu sagen, «die Fokussierung auf die mentalen Bilder, die Sprache angeblich heraufbeschwört, bedeutet eines der grössten und vielleicht auch folgenreichsten Missverständnisse des Gender-Diskurses (…) Es spricht (…) einiges dafür, dass unser mentaler Bildgenerator bei Sätzen mit dem generischen Maskulinum im Standby-Modus bleibt».
Zwar gebe es, so Hirschberg, «die durchaus berechtigte Forderung danach, übersehene bzw. benachteiligte Bevölkerungsgruppen sichtbarer zu machen». Doch letztlich führe auch dies in die Irre, denn:
«Das Starkmachen für fluide, nur noch gefühlte Geschlechtsidentitäten macht es doch absurd, nach adäquaten (mentalen) Visualisierungen zu suchen. Wie sollten diese denn aussehen, ohne in ihrer Festgelegtheit klischeehaft, albern oder gar anmassend auszufallen? Die Gestaltlosigkeit des sozialen Geschlechts sollte seine Unnanschaulichkeit und die Bildlosigkeit implizieren.»
Zudem habe der Versuch, Angemessenheit oder gar Gerechtigkeit in visuellen Darstellungen zu suchen, bisweilen etwas Verzweifeltes. Davon zeugten die grafischen Illustrationen in vielen Broschüren, die für das Ziel der politischen Korrektheit alle möglichen Hauttöne, Leibesformen und Lebensstile in eine Abbildung hineinquetschten.
«Trotz der Anstrengungen bleibt stets eine Gruppe aussen vor, seien es die Alten, Hässlichen usw.», so Hirschberg. «Der offensichtliche Anspruch, Diversität abzubilden, macht diesen Mangel dabei erst so richtig deutlich.»
Bei der weithin und zuweilen hitzig geführten Sprachdebatte wird im Übrigen eine ganz zentraler Aspekt übersehen: dass es vor allem einer grossen gesellschaftlichen und medialen Debatte über die Folgen des Systems, in dem wir uns eingerichtet haben, bedarf. Und zwar über die Folgen für unser Zusammenleben und auch die Art, wie wir über Mitmenschen denken und wie wir ihnen begegnen.
Systemkritik war auch schon mal regelrecht «en vogue», vor allem in den 1970er und 1980er Jahren.
Wir Menschen sind nämlich zuallererst auch Wesen, die sozial geprägt werden. Destruktive Denk- und Verhaltensweisen wie Rassismus sind nicht angeboren, sondern haben ihre soziale Ursachen – und sicher nicht (primär) in der Sprache.
Dieser Gedanke lässt sich auf viele andere Bereiche übertragen. Daher das Anfangszitat von Amartya Sen, Harvard-Ökonom und Nobelpreisträger, das verdeutlicht, dass es nicht mehr Geld für Hilfsorganisationen bedarf, um dem so leidvollen Hunger auf der Welt ein Ende zu setzen, sondern «schlicht» einer wirklich freien Presse.
Verlieren wir uns also nicht im Klein-Klein, sondern schauen auf das grosse Ganze.
Alles Gute – trotz allem!
Torsten Engelbrecht
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