Das Resultat einer jeden Messung scheint daher eher den Zustand zu betreffen, in den das System im Verlauf des Experiments überführt wird, als den unerkennbaren Zustand, in dem es sich befand, bevor es gestört wurde.
Ettore Majorana
Liebe Leserinnen und Leser
Kennen Sie Ettore Majorana? Nun, ich kannte ihn bis vor kurzem nicht. Dabei ist er einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts – und ein Verschollener. Vor ziemlich genau 85 Jahren, nämlich am 26. März 1938, verschwindet der damals nicht einmal 32-Jährige Italiener bei einer Überfahrt von Palermo nach Neapel spurlos.
Bis heute ist nicht geklärt, was damals mit ihm geschehen ist. Spekulationen ranken sich um Hypothesen, die vom Selbstmord über die «Flucht» (samt neuer Identität) nach Argentinien, bis zur Entdeckung von Zeitreisen reichen.
1975 schreibt der italienische Autor Leonardo Sciascia ein Buch über Majoranas Verschwinden, erst kürzlich gab es beim WDR ein Feature zu Majorana. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben widmete dem «Fall» Majorana einen philosophischen Essay, in dem er dessen wissenschaftliches Werk und sein Verschwinden in Bezug zueinander setzt, allerdings anders als Sciascia dies tut. Dieser wertete Majoranas Verschwinden als moralisches Statement bezüglich der aufkommenden Kernenergie, deren Gefahren er vorausgesehen habe.
Keine Angst: Ich werde Sie, liebe Leserinnen und Leser, an dieser Stelle weder mit ausufernden physikalischen noch mit philosophischen Ausführungen behelligen. Allerdings erscheint mir die Beschäftigung mit Majorana, seiner Forschung und seinem Verschwinden gerade in dieser Zeit lohnenswert. Nur so viel: Die Frage, die ihn am meisten umtrieb, war diejenige nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit. Agamben zufolge stellte er der Wissenschaft selbst eine Frage, die bis heute weder von der Philosophie noch von der Physik beantwortet werden kann, nämlich: Was ist Wirklichkeit?
Er galt gleichermassen als Genie und Aussenseiter und hat wohl viele relevante Entwicklungen der Physik respektive deren Folgen vorausgesehen, insbesondere die Entwicklung der Atombombe. Zugleich interessierte er sich für Soziologie und schrieb gar einen Artikel mit dem Titel: «Die Bedeutung statistischer Gesetze in der Physik und den Gesellschaftswissenschaften» (postum 1942 erschienen). Dort heisst es:
«Unbestreitbar kommt hauptsächlich, ja fast ausschliesslich, dem Determinismus das Verdienst zu, die grossartige Entwicklung der Wissenschaft auch in physikfernen Bereichen ermöglicht zu haben. Doch der Determinismus, der der menschlichen Freiheit keinen Raum lässt und dazu nötigt, alle Lebenserscheinungen ob ihres offensichtlichen Finalismus für illusorisch zu halten, hat eine echte Schwachstelle: den unmittelbaren, unaufhebbaren Widerspruch mit den gewissen Daten unseres Bewusstseins».
Die finale Hypothese Agambens möchte ich an dieser Stelle nicht spoilern, aber verraten, warum ich der Meinung bin, dass sich eine Beschäftigung mit Majorana lohnt: Er lehrt uns, dass die Wirklichkeit stets unberechenbar ist.
Herzliche Grüsse
Susanne Schmieden
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