Die Welt der Utopien ist gestorben.
Wir leben in einer Nützlichkeitsgesellschaft,
und da ist der Fussball zur Welt der grossen Geschäfte verdammt.
In der dritten Welt nimmt man den Menschen das Brot,
in den Industrienationen stiehlt man ihnen die Träume.
César Luis «El Flaco» Menotti
Trainer des argentinischen Fussballweltmeister-Teams 1978
Liebe Leserinnen, liebe Leser
Zur Abwechslung möchte ich heute leichte Kost servieren. Es muss sich nicht immer alles um Corona, Krieg, Korruption und sonstige Abgründe drehen. Ausserdem ist bald Weihnachten, das Fest der Besinnlichkeit, wie man sagt, obwohl ich mit dieser verklärten Rhetorik nichts anfangen kann.
Dafür freue ich mich auf das Finale der Fussball-WM am Sonntag. Argentinien trifft auf Frankreich, wobei Frankreich die seltene Chance erhält, den WM-Titel zu verteidigen. Zuletzt gelang das Brasilien 1962. Wer auch gewinnt, für beide Mannschaften wird es der insgesamt dritte WM-Titel sein.
Argentinien kann Frankreich die Titelverteidigung vermiesen, so wie sie dies selbst auch schon erlebt haben. Denn nach dem Titelgewinn 1986 – bisher Argentiniens letzter – mit dem legendären Diego Maradona wurde das Finale 1990 in der direkten Revanche gegen Deutschland verloren. Übrigens verloren die Argentinier ihr letztes Finale 2014 wiederum gegen Deutschland.
Im Fokus des Spiels wird vor allem der Kapitän der argentinischen Mannschaft stehen: Lionel Messi. Der 35-Jährige hat während seiner langen, erfolgreichen Karriere zahlreiche Rekorde aufgestellt, national wie international, persönlich wie auch im Vereinsfussball. Doch der WM-Titel fehlt ihm noch.
Der ewige Vergleich von Messi mit dem argentinischen Fussball-Idol Maradona ist geradezu mythenhaft – und damit Messi mit ihm «gleichziehen» kann, muss Argentinien am Sonntag Weltmeister werden. Messi wird nach 2014 seine zweite und wahrscheinlich letzte Chance dazu erhalten.
Der Titel würde ihm auch im langjährigen Vergleich der besten Fussballer der Gegenwart mit dem Portugiesen Cristiano Ronaldo einen Vorteil bringen. Portugal schied im Viertelfinale überraschend gegen Marokko aus. Ronaldo ist zwei Jahre älter als Messi, ein stolzes Fussballalter, und dürfte wohl keine WM-Chance mehr erhalten.
Messi wäre der Titel zu gönnen. Ich habe in meiner Jugend selbst im Fussballklub gespielt. Wer mit Fussball etwas anfangen kann, versteht den Genuss, Messi beim Spielen zuzusehen. So wie es immer eine Freude ist, jemandem bei einer Tätigkeit zuzusehen, bei der das natürliche Talent unübersehbar ist.
Messis Bewegungen sind wie ein plätscherndes Gewässer, rhythmisch, elegant und harmonisch, von einer charakteristischen, unverwechselbaren Prägnanz, spielerische Leichtigkeit ausstrahlend, Kraft und Technik ausgewogen dosiert, makellose Ballführung, unberechenbar, mit unwiderstehlichen Körpertäuschungen und Tempo-Dribblings. Hin und wieder ein Geistesblitz oder ein Geniestreich.
Falls Ihnen langweilig ist: Schauen Sie sich einfach ein «Best Moments»-Video von Messi an – davon gibt es unzählige im Internet. Es sieht eigentlich nie nach Arbeit aus, gute Laune garantiert. Über Messis Fussballkunst müsste ein Poet eine Hymne schreiben.
Vielleicht ist es trivial, über Fussball zu schreiben. Immerhin werden dort Spieler (mitunter auch Trainer und Vereine) mittlerweile wie Aktien gehandelt. Das schlechte Gewissen ist immer ein wenig mit dabei. Brot und Spiele, ein bewährtes Herrschaftsmittel zur Ablenkung der Massen seit mindestens der römischen Antike.
Die Fussball-WM ist ein Spiegelbild in konzentriertem Kleinformat unserer globalisierten Welt, in der Milliardengeschäfte auf Vorstellungen wie Fairness und Sportsgeist treffen. Ein Volkssport, ein Spiel, das als Ware durchkommerzialisiert ist und über globale TV-Stationen durchkomponiert daherkommt wie ein Werbevideo, verkommen zum Massenspektakel, zur Seelenlosigkeit entstellt, die Fans und Zuschauer zu uniformen Konsumenten degradiert.
Aber Fussball hat als populärste Sportart der Welt auch eine wichtige integrative Rolle. Es ist eine universale Sprache, ein Bindeglied der Gesellschaft, ein Verständigungsorgan. Es sind Emotionen des Sieges, der Spannung, der Melancholie, des Frusts, der Niederlage, so wie sie jeder Mensch kennt, kollektiv wie individuell. Kein Wunder, wird Fussball auch «Spiel des Lebens» genannt.
Hoffentlich wird das WM-Finale ein Augenschmaus für alle Fussball-Ästheten, die das Schöne lieben. Dann lohnt sich die Ablenkung wenigstens. Und mit Messi wird der grösste Fussball-Ästhet der Geschichte zu sehen sein. Vielleicht auch zu bewundern, wenn er gut spielt.
So freue ich mich auf den Sonntag und hoffe auf mindestens einen Messi-Moment, in dem er von dieser unerklärlichen Magie auserwählt scheint, und etwas mit dem Ball anstellt, das sonst keiner kann, und Räume bespielt, die nicht da sind.
Herzliche Grüsse
Armin Stalder
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