Viele Worte wässern, wenig Worte würzen.
Carl Spitteler
Liebe Leserinnen und Leser
Drei Male hat es mir in letzter Zeit die Sprache verschlagen, aus drei völlig verschiedenen Gründen und Emotionen. Der erste Grund war eine traurige Nachricht, ein Todesfall. Unerwartet.
Der zweite Grund ist fast schon alltäglich, zumindest erwartbar in der heutigen Zeit. Aber dennoch: Die Intention dahinter kann einem schon noch die Worte fehlen lassen. Ich versuche es trotzdem:
Unser Leser Reinhold. J. schrieb uns vor ein paar Tagen, dass er versucht habe, einer Universitätsbibliothek in der Schweiz einen Anschaffungsvorschlag zu unterbreiten. Das ist absolut üblich, die Universitäten bieten dies ihren «Kunden» an. Aus meinen Erfahrungen an der Universität und im Buchhandel weiss ich, dass diesen Vorschlägen von Lesern in der Regel entsprochen wird, sofern das jeweilige Buch irgendwie lieferbar ist, also über den Buchhandel, eine Auslieferung, den Verlag oder antiquarisch.
Das Buch, das Reinhold J. vorgeschlagen hatte, ist ein aktueller Titel, nämlich folgender: Andreas Sönnichsen, «Die Angst- und Lügenpandemie. Ein Beitrag zur Aufarbeitung der Coronakrise». Allerdings hat die betreffende Bibliothek es abgelehnt, das Buch anzuschaffen, und zwar mit der folgenden Begründung (die Original-Nachricht liegt unserer Redaktion vor):
«Literatur, die sich an ein universitäres Publikum wendet, muss wissenschaftlichen Kriterien entsprechen, von Forschenden stammen und/oder eine anerkannte Rezeption in der Fachwelt erfahren.»
Das ist schon einmal sehr interessant, denn natürlich entspricht bei weitem nicht jedes Buch, das sich an einer Universitätsbibliothek befindet, «wissenschaftlichen Kriterien». Allein schon deshalb nicht, weil dort insbesondere auch riesige Mengen an belletristischer Literatur und historischen Texten liegen – also die Primärquellen heutiger wissenschaftlicher Erforschung derselben. Und natürlich gibt es an Universitätsbibliotheken auch populärwissenschaftliche oder sonstige nicht-wissenschaftliche Literatur, zum Beispiel Reiseführer oder Bildbände oder dergleichen.
Brisant ist ausserdem: Dass ein Werk «eine anerkannte Rezeption in der Fachwelt erfahren» hat, ist kein wissenschaftliches Kriterium. Ausserdem: Wer definiert, was eine «anerkannte Rezeption» ist?
Und selbst wenn es zuträfe, dass die Literatur für eine Universitätsbibliothek nach «wissenschaftlichen Kriterien» ausgesucht werden würde: Andreas Sönnichsen ist respektive war Professor an der Universität Wien. Welchen Status muss man der Universität nach wohl haben, um als «Forschender» zu gelten? Nun, offenbar darf man sich nicht kritisch in Sachen Corona geäussert haben.
Weiter heisst es – offenbar ohne jedes Bewusstsein für die Widersprüchlichkeit zum vorher Gesagten – in der Nachricht an unseren Leser:
«Auch bei populärwissenschaftlicher und belletristischer Literatur achtet die UB darauf, die gesellschaftlichen Diskussionen möglichst breit und von verschiedenen Perspektiven her abzubilden.
Die Medien müssen aber qualitativen Kriterien wie Renommee des Autors/der Autorin, Bekanntheit des Verlags, Rezeption in öffentlichen Medien usw. genügen.
Ihr Anschaffungsvorschlag löst eine dieser Vorgaben nicht ein.
Wir verzichten deshalb auf eine Erwerbung.»
Das ist nun vollends entlarvend: «Renommee des Autors/der Autorin, Bekanntheit des Verlags, Rezeption in öffentlichen Medien» sind keine wissenschaftlichen Qualitätskriterien, sondern dienen hier offensichtlich als Ersatz für sachbezogene Qualitätskriterien. Genau genommen handelt es sich dabei geradezu um vorwissenschaftliche Kriterien, nämlich um das sogenannte Argumentum ad verecundiam (lat. «Autoritätsargument»). Das ist indessen nichts Neues, im Grunde genommen war das bereits vor Corona im akademischen Betrieb zu beobachten. Ich könnte davon ein Lied singen. Dass es hier so nonchalant zugegeben wird, macht dann aber doch einigermassen sprachlos.
Reinhold J. hat dann auch die Rückfrage gestellt, welche der Vorgaben denn nicht eingelöst werde. Die Antwort der Universitätsbibliothek darauf steht noch aus.
Nun aber zum dritten Grund meiner «Sprachlosigkeit»: Genauer gesagt handelte es sich dabei um ein Experiment, eine simple und geniale Idee. Ich habe am Wochenende an einem Tango-Seminar teilgenommen und die Gastlehrer aus Argentinien haben einfach die erste Stunde komplett ohne Worte unterrichtet. Niemand hat irgendetwas gesagt – und trotzdem konnten hinterher alle Teilnehmer die komplexen Übungen und Sequenzen tanzen. Das funktioniert. Und mehr als das: Es führt zu mehr Konzentration, mehr Achtsamkeit, mehr Verbundenheit untereinander und zu einer unglaublichen geistigen Klarheit.
«There are too many useless words», meinte einer der Teilnehmer als Resonanz auf diese Erfahrung. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
In diesem Sinne: Achten Sie doch einmal darauf, wo und wann es weniger Worte braucht. «Sprachlosigkeit» kann auch etwas Positives sein.
Herzlich
Susanne Schmieden
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