Das Übel ist nicht, ein paar Feinde zu hassen,
sondern unsere Nächsten nicht genug zu lieben.
Anton Tschechow
Liebe Leserinnen, liebe Leser
Schlaffe Schlauchboote erinnern an Tarifas Stränden daran, dass an einem stürmischen Morgen 40 Menschen hier gerade noch lebend angekommen sind. Ein zerschlissener Turnschuh, ein ölverschmiertes T-Shirt und leere Wasserflaschen sind die einzigen Relikte dieser Reise von Marokko nach Europa.
Gehetzten Hunden gleich, schlugen sich diese Menschen in die umliegenden Pinienwälder. Vielleicht schafften es einige, den Fängen der Guardia Civil zu entkommen, vielleicht hocken einige von ihnen nun in den Auffangstationen für Migranten, den CIES (Centros de Internamiento para Extranjeros), ein beschönigender Name für einen Platz mit kalten Duschen, einer Toilette für 50 Personen und Schimmelpilzen an den Wänden.
14,4 Kilometer trennen die marokkanische von der andalusischen Küste. Oft frage ich mich, wieviele Migranten der Atlantik bis heute verschluckt hat und wieviele Menschen auf der marokkanischen Seite in Zeltstädten ausharren, um eines Tages im Morgengrauen oder mitten in der Nacht den Grenzzaun von Melilla zu erklimmen. Nur einigen wenigen gelingt es, mit aufgeschnittenen Händen und Fusssohlen, das gelobte Europa zu erreichen. Ein Grossteil wird sofort an der Grenze abgeschoben, im Spanischen heisst das «devolución en caliente» (heisse Abschiebung).
Melillas Grenzzaun, ein Symbol unserer europäischen Mauer, die Migrantenströme abhalten soll. Leid, das man nicht sieht, tangiert einen ja nicht. Doch wenn wieder einmal eine Patera im Mittelmeer versinkt und dabei wie zuletzt vor der Küste Kalabriens mindestens 70 Menschen ertrinken, ist das Geschrei gross. Erst dann zeigen wir unser Mitgefühl, fordern von den Politikern eine ernsthafte Migrationspolitik und von Europa eine gemeinsame Seenotrettung.
Ich selbst ertappe mich dabei, Solidarität oft nur zu heucheln. Klar, informiere ich mich umfassend und fühle mit. Dabei wäre es doch viel sinnvoller, nicht nur in scheinheiligen Lippenbekenntnissen zu verharren, sondern den Worten Taten folgen zu lassen. Vor Jahren hat mich das Thema Einwanderung derart berührt, dass ich mich dazu entschloss, eine Zeit lang als ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Immigrantenorganisation Málaga Acoge mitzuwirken.
Diese kümmert sich um Migranten, die ohne Dokumente, meist in prekären Booten nach Spanien gelangen. Ein Umzug und eine neue Beziehung veranlassten mich damals, Málaga Acoge den Rücken zu kehren, wofür ich mich noch heute schäme, denn in meinen Augen ist es heute wichtiger denn je, Minderheiten und Benachteiligten eine Stimme zu geben.
Ich finde es sehr bedenklich, dass die «Pandemie» das Thema Migration stark in den Hintergrund gedrängt hat. In den Medien war in den letzten drei Jahren nur wenig von den Problemen der Migration die Rede. Vielleicht ein bewusstes Ablenkungsmanöver, um hinter den Kulissen eine noch härtere Einwanderungspolitik durchzuboxen.
Sobald das Thema Migration durch ein Unglück wieder vor unserem geistigen Auge aufblitzt, sollten wir vielleicht in uns gehen und mit den Gedanken bei jenen Menschen sein, die jenseits der europäischen Mauer leben und vielleicht können wir unseren Gedanken auch Taten folgen lassen.
Herzlich
Lena Kuder
[email protected]
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