Der Friede ist das Meisterwerk der Vernunft.
Immanuel Kant
Liebe Leserinnen und Leser
Letzte Woche jährte sich die russische Invasion in der Ukraine zum zweiten Mal. Was nun?
Stabile Friedensordnungen in Europa sind immer mit Blick auf das Abwehren von Hegemonieversuchen und die Wiederherstellung eines Gleichgewichtes der Kräfte gestaltet worden. Da solche Gleichgewichte immer durch neue Hegemonieversuche gestört wurden, kamen im 20. Jahrhundert die Konzepte der kollektiven Sicherheit und der Interessenabgrenzung hinzu.
Bereits 1648, beim Westfälischen Frieden, bestand ein Ziel darin, eine Hegemonie des Deutschen Reiches in Europa zu verhindern. Diese Friedensordnung hielt denn auch ungewöhnlich lange.
Napoleon war derjenige, der wieder einen Hegemonieversuch wagte. Die Neuordnung gelang am Wiener Kongress 1815 mit einem ausgeklügelten Vertragswerk, das fünf europäische Grossmächte im Gleichgewicht hielt.
Dieses System hielt bis zum Ersten Weltkrieg. Die nachfolgenden Friedensverträge von Versailles und Trianon gingen einen Schritt weiter. Sie sahen erstmals kollektive Sicherheit im Rahmen des Völkerbundes vor.
Das Konzept der Interessenabgrenzung wurde in den USA schon im 19. Jahrhundert mit der Monroe-Doktrin vertreten. Es besagt, dass sich ausseramerikanische Staaten nicht in Amerika einmischen dürfen, dass die USA sich aber sehr wohl in Lateinamerika einmischen würden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Antagonismus zwischen kollektiver Sicherheit und Interessenabgrenzung ein wichtiger Grund für die Entstehung des Kalten Krieges. Während der britische Premierminister Winston Churchill der kollektiven Sicherheit misstraute, setzte US-Präsident Franklin D. Roosevelt eher auf kollektive Sicherheit, wie die Gründung der UNO.
Allerdings betrachteten die USA Mittel- und Lateinamerika weiterhin als ihren Hinterhof, wie die brandgefährliche Kubakrise zeigte. Mexiko weiss seit jeher, dass es aussenpolitisch auf den übermächtigen Nachbarn Rücksicht nehmen muss.
Die Geopolitik ist also gegeben. Besonders kleine Länder oder Staaten im Bereich einer geopolitisch unruhigen Tektonik wie Griechenland oder die Ukraine müssen sich auf realistische und realpolitische Art positionieren.
Gut gelungen ist das im Kalten Krieg dem an der Bruchlinie zwischen Ost und West gelegenen Finnland: Helsinki hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg unter Präsident Paasikivi zu einer Art von Neutralität verpflichtet, die der Sowjetunion die Angst vor einem erneuten Angriff nahm. So entging das Land dem Schicksal der baltischen Staaten, musste zwar bündnisfrei bleiben, war aber innenpolitisch komplett unabhängig. Die «Finnlandisierung», im Kalten Krieg ein Schimpfwort, war in Tat und Wahrheit kluge Realpolitik.
Es war der Westen, der ein solches Konzept bei der Ukraine verhindert hat. Und es waren die USA, die Kiew vergebliche Hoffnungen auf eine NATO-Mitgliedschaft machten. Ob Finnland klug gehandelt hat, jetzt der NATO beizutreten, bleibt abzuwarten. Zweifel sind angebracht, denn dieser Beitritt bringt die NATO wieder näher an Russland und dies könnte die Vorwarnzeiten weiter senken, was zum Beispiel die Gefahr erhöht, dass ein Missverständnis in den Atomkrieg führt.
Während der Invasionen der Sowjets in Ungarn (1956) und in der Tschechoslowakei (1968) war dem Westen (nicht aber der Öffentlichkeit) von Anfang an klar, dass diese Ländern zur sowjetischen Einflusszone gehören und dass der Westen nicht intervenieren würde. Ein schreckliches, aber stabiles Gleichgewicht der Kräfte war entstanden.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war es zunächst vor allem die Sowjetunion unter Gorbatschow, die das Thema der kollektiven Sicherheit mit der Formel von «gemeinsamen europäischen Haus» wieder aufs Tapet brachte.
Während anfänglich klar war, dass zum Beispiel die NATO sich nicht ad libitum nach Osten ausdehnen dürfe, wie es der ehemalige tschechische Aussenminister Jan Kavan im Gespräch mit Transition News darlegte, wurde später nicht viel aus den Ansätzen der kollektiven Sicherheit. Aus dem Obengenannten, wird aber klar, dass der Frieden in Europa nur durch eine Gleichgewichtslage, durch Interessenabgrenzung oder durch kollektive Sicherheit gewährleistet werden kann – nicht durch einen Hegemonieversuch.
Mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 ist eine neue Grossmacht entstanden, die seither immer mehr die Weltpolitik zu bestimmen trachtet. Man kann deshalb durchaus auf den Gedanken kommen, dass wir im Moment einen US-amerikanischen Hegemonieversuch in Europa beobachten.
Man könnte zwar auch sagen, dass ein Verteidigungsbündnis wie die NATO nicht per se bedrohlich ist. Das hätte aber bedingt, dass die NATO Grenzen als unantastbar respektiert – was sie aber in den letzten 30 Jahren nicht immer getan hat; im Irak nicht und in Serbien nicht.
Solange die Grossmächte sich Interessensphären und Satellitenstaaten halten und die Regeln der kollektiven Sicherheit wie die Unantastbarkeit der völkerrechtlichen Grenzen nicht respektiven, funktioniert kollektive Sicherheit nicht.
Natürlich haben die als ungerecht empfundenen Verträge von Versailles und Trianon keinen erneuten Krieg gerechtfertigt. Genauso wenig können legitime russische Sicherheitsbedürfnisse den brutalen Überfall auf die Ukraine legitimieren. Aber solche Sicherheitsinteressen gibt es – und sie sind verständlich, wenn man sich in die Lage Moskaus versetzt. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wurde von Russland denn auch als quasi die röteste aller roten Linie bezeichnet.
Aber was nun nach zwei Jahren Krieg? Mein Kollege Tilo Gräser hat hier eindrucksvoll gezeigt, dass es bereits kurz nach Kriegsausbruch eine sehr realistische Chance auf Frieden gab – und dass der Westen es war, der die Vereinbarung torpedierte.
Selbst in den USA mehren sich heute die Stimmen, die vor einem harten Kurs gegenüber Russland warnen.
In der heutigen, brandgefährlichen Situation ist also eine nachhaltige Sicherheitsordnung in Europa ohne den Einbezug Russlands oder die Schaffung einer Pufferzone (zum Beispiel Finnlandisierung der Ukraine) nur schlecht denkbar. Eine Sicherheitspolitik der Ukraine kann nicht gegen Russland konzipiert werden, wie das in den letzten Jahren geschehen ist.
Der Krieg kann am ehesten dann gestoppt werden, wenn der russische Präsident Putin ein gesichtswahrendes Angebot erhielte, basierend auf den Verhandlungsergebnissen vom März 2022. Ein Hegemonieversuch in Europa war noch nie von Dauer, hat nie funktioniert und endet in der Regel in der Katastrophe.
Nachdem dieser Krieg zu einem Stellungs- und Abnützungskrieg geworden ist, der unermessliches Leid über die Ukraine gebracht hat, sollte sich diese Einsicht Bahn brechen. Und spätestens nach den Präsidentenwahlen in den USA wäre auch dort die Gelegenheit für einen Politikwechsel günstig. Friede schaffen ist ein Zeichen der Vernunft, wie das Eingangszitat von Kant zeigt – und nicht von Schwäche.
Herzlich
Daniel Funk
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