«Ein längerer, gewaltsamerer Krieg hätte langfristige und wahrscheinlich unumkehrbare nachteilige Folgen für die Interessen der USA.» Das stellen die Politikanalytiker Mirana Priebe und Samuel Charap von der US-Denkfabrik (Thinktank) Rand Corporation in einem am 9. Februar veröffentlichen Report fest. Danach habe ein längerer Krieg in der Ukraine «negative wirtschaftliche Auswirkungen auf die Vereinigten Staaten, ihre Verbündeten und die Ukraine, unabhängig von der Nachkriegsstrategie der USA».
In dem Report unter dem Titel «Planning for the Aftermath» («Planung für die Zeit nach dem Krieg») setzen sich die beiden Analytiker mit möglichen Nachkriegsszenarien und deren Folgen auseinander. Dabei geht es vor allem um das Verhältnis zwischen dem US-geführten Westen und Russland. Ihr Fazit klingt wie ein Aufruf zu mehr Vernunft in der westlichen Politik.
Die Rand Corporation gilt als eines der einflussreichsten US-Politikforschungs- und beratungsinstitute, die als «Denkfabriken» bezeichnet werden. Sie ist nach eigenem Bekunden unabhängig und «objektiv», wird aber dem Umfeld der US-Rüstungsindustrie zugerechnet. Bereits im 20. Jahrhundert hat sie eine wichtige Rolle für die US-Politik gespielt, so im Zusammenhang mit dem Vietnam-Krieg.
Die aktuelle Studie von Priebe und Charap beschreibt mögliche Szenarien für die Nachkriegssituation sowie deren Auswirkungen für die US-Politik. Darauf aufbauend zeigen sie zwei mögliche Strategien der USA im Verhältnis zu Russland, eine «harte Linie» und eine «weniger harte Linie». Sie stützen sich dabei nach eigenen Angaben auf die Geschichte der Beziehungen zwischen den USA und Russland sowie auf die Literatur zu Rivalitäten, zwischenstaatlichen Konflikten und Allianzen. Zugleich betonen sie, dass sie damit «nicht vorhersagen, wie sich das Nachkriegsjahrzehnt entwickeln wird».
«Nachteilige Folgen für US-Interessen»
Sie machen darauf aufmerksam, dass ein längerer Krieg in der Ukraine «langfristige und wahrscheinlich unumkehrbare nachteilige Folgen für die Interessen der USA» haben kann. Die USA könnten aber den Ausgang des Konflikts «möglicherweise beeinflussen» und hätten «politische Optionen, um beispielsweise Russland und die Ukraine zu ermutigen, einen Waffenstillstand eher früher als später zu erreichen».
Ein «ungünstigerer Ausgang des Krieges», mit dem westliche Experten angesichts der Entwicklung und aufgrund der bisher ausgeschlagenen Verhandlungslösung rechnen, kann den Rand-Experten zufolge «zu schlechteren Ergebnissen für die Interessen der USA am Ende dieses Jahrzehnts» führen. Das sei «unabhängig davon, was Washington in der Nachkriegszeit unternimmt». Die Nachkriegsstrategie der USA könne die negativen Folgen «bestenfalls abmildern».
Die US-Politik kann laut beiden Politikwissenschaftlern auf ein kurzfristiges Kriegsende hinwirken und so die Ausgangslage der Ukraine verbessern und eine «künftige russische Invasion» vermeiden. Das könne durch einen «robusteren Waffenstillstand» geschehen, «der das Risiko einer Eskalation der Ereignisse entlang der Konfliktlinie zu einem weiteren Krieg verringern könnte». Darauf hat kürzlich in Berlin auch ein früherer Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, der Ex-Bundeswehr-General Harald Kujat, hingewiesen.
«Je länger der Krieg andauert, desto grösser sind die Kampfverluste und die wirtschaftlichen Auswirkungen. Wenn der Konflikt früher beendet wird, hat die Ukraine grössere Chancen auf eine robuste wirtschaftliche Erholung, die die langfristige Grundlage für den Wiederaufbau und die Aufrechterhaltung ihrer Verteidigungsanlagen bildet.»
Laut Priebe und Charap könnte die USA «Haupthindernisse für Verhandlungen aus dem Weg räumen», indem sie der Ukraine Sicherheitsverpflichtungen anbieten oder Russland vorübergehende Sanktionserleichterungen gewähren. Zudem könne die US-Politik das Risiko verringern, dass der Russland-Ukraine-Konflikt nach dem Ende des Krieges wieder aufflammt. Letzteres zur vermeiden, müsse für die Politik Washingtons «wichtigen Vorrang» haben.
«Russischer Angriff auf Nato wenig wahrscheinlich»
Die Rand-Experten schreiben, Kiew könne sich auf die Verteidigung statt auf die Rückeroberung der von Russland gehaltenen Gebiete konzentrieren. Das sieht laut Kujat auch die neue in den USA ausgearbeitete Strategie für die Ukraine vor. «Es wäre auch weniger wahrscheinlich, dass Russland die Ukraine präventiv angreift, um ihre Fähigkeiten zu zermürben, wenn Moskau sieht, dass Kiew eher zur Verteidigung als zum Angriff bereit ist», heisst es dazu in der Rand-Studie.
Zugleich wäre es für die Ukraine «weniger wahrscheinlich», einen Krieg zu beginnen, um besetzte Gebiete zurückzuerobern, als wenn sie über von den USA bereitgestellte Kapazitäten für diesen Zweck verfügen würde. Zugleich warnen die beiden Autoren:
«Eine harte Nachkriegsstrategie der USA in Europa könnte einen Konflikt mit Russland wahrscheinlicher – und nicht unwahrscheinlicher – machen.»
Ein derzeit im Westen heraufbeschworener Russland-Nato-Konflikt durch russische Angriffsabsichten ist für die Rand-Experten nach dem Ukraine-Krieg «weniger wahrscheinlich» als vorher. Durch den Krieg in der Ukraine sei Russlands Militär geschwächt, stellen sie fest. Zugleich habe die Nato eine anhaltend «starke Abschreckung gegen russische Angriffe auf Verbündete».
«Selbst während des Krieges, als Russland reichlich Grund hatte, Vergeltungsmassnahmen gegen die Nato wegen der Bewaffnung seines Feindes zu ergreifen, tat es dies nicht, was darauf schliessen lässt, dass die Abschreckungswirkung der Nato bereits stark ist.»
Der Krieg in der Ukraine habe die Beziehungen zwischen den USA und Russland zerrüttet und den Spielraum für künftige Abrüstungsverträge «eingeengt», stellen die Experten fest. Deshalb gebe es in der Nachkriegszeit mehr Risiken für Konflikte als vorher. Eine «harte US-Politik im Nachkriegskontext», so durch eine weitere Aufrüstung in Europa, sei «wahrscheinlich nicht notwendig». Sie könne dagegen das Risiko eines Konfliktes mit Russland auf «anderen Wegen» erhöhen.
Warnung vor «Spirale der Feindseligkeit»
Ein solcher Konflikt könne aufgrund von «Moskaus durchsetzungsfähigen Reaktionen» auf die US-Hardliner-Politik entstehen, nicht wegen angeblicher Moskauer Angriffsabsichten. Priebe und Charap schreiben im Gegensatz auch zu bundesdeutschen Politikern und Experten, Russland sei «nicht geneigt», die USA oder die Nato anzugreifen.
Sie schätzen zugleich ein, dass «Russlands Risikotoleranz die gleiche bleibt wie heute und dass der Kreml selbstbewusst auf eine harte US-Politik reagiert». Damit könne «eine Spirale der Feindseligkeit» ausgelöst werden, die einen Konflikt wahrscheinlicher mache.
Die Autoren gehen davon aus, dass Russland auf die Aufrüstung der US-Atomwaffen und der Ablehnung der Rüstungskontrolle reagieren wird. Das könne zu grösserer Instabilität führen und das Risiko einer Fehleinschätzung der Absichten erhöhen. Es sei für Moskau schwierig, «in einer Eskalationsspirale einen Rückzieher zu machen».
Die Rand-Experten gehen auch auf die Beziehungen zwischen Russland und China ein. Diese könnten in Folge des Ukraine-Konfliktes und der damit verbundenen westlichen Politik «unumkehrbar» geworden sein.
«In der Nachkriegszeit könnte eine harte US-Politik gegenüber Russland mehr Anreize für eine engere Zusammenarbeit zwischen Russland und China schaffen.»
Mögliche Spaltung der Nato
Ebenso machen sie auf mögliche Spaltungen innerhalb der Nato aufmerksam, wenn der Ukraine-Krieg beendet wurde. Hinter der Fassade der äusseren Einheit hätten die Nato-Mitgliedsstaaten während des Krieges unterschiedliche Ansichten über die Wirksamkeit und die Risiken der verschiedenen politischen Massnahmen geäussert.
«Nach dem Krieg könnte eine harte Haltung der USA gegenüber einem Russland, das sich weniger kriegerisch verhält, auf den Widerstand von Verbündeten wie Frankreich, Italien und Deutschland stossen.»
Dagegen würden sich vor allem osteuropäische Regierungen eher für eine harten US-Kurs aussprechen. Deutschland und Frankreich könnten aus Sicht der Autoren auf Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Nato reagieren, indem sie ihren Beitrag zur «kollektiven Verteidigung» verringern.
Die Rand-Experten machen darauf aufmerksam, dass sich die politische Debatte angesichts der Ungewissheit über den weiteren Kriegsverlauf «eher auf unmittelbare und dringende Entscheidungen als auf die Nachkriegsplanung» konzentriere. Würden aber die langfristigen Faktoren nicht beachtet, könnten «Gelegenheiten zur Gestaltung des Nachkriegsumfelds verpasst werden».
Priebe und Charap hatten sich schon Ende Januar 2023 in einer Studie für einen Waffenstillstand und für Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew ausgesprochen. Sie kritisierten bereits zu diesem Zeitpunkt, dass sich die politische Debatte in den USA «zu eng auf eine Dimension des Kriegsverlaufs konzentriert». Beide warnten vor der Gefahr einer nuklearen Eskalation im Verlauf des Krieges, wenn dieser für Russland «nahe am Existenziellen» sei.
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