Besser ist das Wagnis,
das dein Leben schützt,
als stolzer Nachruhm,
den du mit dem Tod bezahlst.
Euripides
Liebe Leserinnen und Leser
Von meinem Haus aus sehe ich einen Wasserfall. In seinem Bach ist am letzten Freitag ein 35-jähriger Österreicher beim Canyoning ums Leben gekommen. Laut la Regione gilt das Riviera-Gebiet im Tessin in unseren Breitengraden als «Eldorado» für Begeisterte dieses Extremsports. Tödliche Unfälle sind allerdings selten: In den letzten beiden Jahren gab es keine, 2020 zwei, die ebenfalls ausländische Staatsangehörige betrafen. An schweren Unfällen hätte es jedoch nicht gemangelt, so die Zeitung.
Bei schweren oder gar tödlichen Unfällen, die der Suche nach einem Adrenalinkick geschuldet sind, sinniere ich jeweils über die Sinnlosigkeit dieser Tragödien. Natürlich tun mir die Freunde und Angehörigen der Betroffenen leid. Doch für die Opfer selbst habe ich Mühe, wirklich Mitleid zu empfinden, wobei ich bislang noch keine persönlich gekannt habe.
Einen solchen Todesfall werte ich ähnlich wie den Überdosis-Tod eines Drogensüchtigen: Er ist sehr tragisch, doch die Opfer sind einfach zu weit gegangen, um ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen. Wobei ich jemandem, der aufgrund persönlicher Probleme in die Drogensucht geraten ist, mehr Verständnis entgegenbringen kann, als dem gutbetuchten und verwöhnten «Adrenalin-Junkie».
Selbstverständlich kann und sollte man im Leben nicht allen Gefahren ausweichen. Sie lauern überall und das Leben selbst ist ein Risiko und ein Abenteuer. Risikolos wäre es langweilig. Doch es gibt eben Grenzen und entscheidend ist insbesondere, was man erreichen will. Ich betrachte es auch als Zeichen geistiger Armut, wenn man Befriedigung in extremen Gefahren suchen muss.
Exemplarisch für die unterschiedliche Motivation stehen zwei Gruppen von Menschen, die im Grunde dasselbe tun: Zu Fuss durchqueren sie den Darien Gap, über 100 Kilometer schlammigen Dschungel an der Grenze zwischen Nord- und Südamerika und zwischen Panama und Kolumbien.
Die eine Gruppe, die diesen laut CNN «heimtückischen» Pfad auf sich nimmt, besteht aus Migranten. Ihr Ziel auf «einer der gefährlichsten Migrantenrouten der Welt» sind die USA. Ein Team des Senders hat eine Gruppe von mehr als 800 Menschen begleitet. Es traf Migranten aus Haiti, Venezuela, Ecuador, China und Indien.
Die Reporter berichten, dass Mitglieder eines Drogenkartells in Kolumbien von den Migranten Geld für die assistierte Durchquerung bis zur Grenze verlangen. Und laut einem Mann, der zum zweiten Mal versuchte, zu seinem Bruder in New Jersey zu gelangen, knüpften ihnen maskierte Männer in Panama nochmals 100 Dollar ab. Wer nicht zahlen könne, dem widerfahre, «was immer sie entscheiden».
Gemäss CNN nimmt der Strom an Migranten ständig zu. Im Jahr 2022 hätten fast 250’000 Menschen den Darien Gap überwunden, fast doppelt so viele wie im Vorjahr und das Zwanzigfache des Jahresdurchschnitts von 2010 bis 2020. Und erste Daten für 2023 würden zeigen, dass von Januar bis März sechsmal so viele die Wanderung unternommen haben, 87’390 im Vergleich zu 13’791 im letzten Jahr. Ein Rekord, so die panamaischen Behörden.
Der CNN-Reporter Paton Walsh erklärte in der Dokumentation, am meisten schockiert sei er über die Zahl der Kinder auf der «zermürbenden» Route, die oft «nicht einmal Erwachsene überleben». In der Tat ist das Team auf etliche verwesende Leichen und menschliche Knochen gestossen. Was die Kinder anbelangt, hat sich nach Angaben von UNICEF die Zahl derer, die den Darien Gap überqueren, in den ersten beiden Monaten des Jahres im Vergleich zum letzten Jahr auf fast 10’000 versiebenfacht.
Der Kontrast zur anderen Gruppe könnte nicht grösser sein, denn es handelt sich dabei um Touristen. Statt Sicherheit und Geborgenheit suchen sie absichtlich das Risiko. So bietet beispielsweise das deutsche «Abenteuer-Start-Up» Wandermut eine «Crossing The Darien - Panama Dschungel Tour» an.
Zwei Wochen durch diesen «wohl berüchtigtsten Dschungel der Welt» mit «enorm vielfältigen und harten» Herausforderungen seien «das Abenteuer unseres Lebens», so das Unternehmen. Kostenpunkt für diesen Adrenalinkick: 3643 Euro. Das Motto der Firma: «Wir gehen dorthin, wo niemand hingeht.». Treffender wäre: «Wir gehen freiwillig dorthin, wo andere gezwungen sind hinzugehen.»
Das bringt mich zu Friedrich Nietzsche beziehungsweise zu einer Kritik von dessen Philosophie des Risikos und der Lebensbejahung von Jeremy Garbe, Philosophiestudent an der Carleton University. Er argumentiert, dass diese Philosophie Nietzsches «direkt an die privilegiertesten Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft appelliert, nämlich an diejenigen, die zu den dominanten sozialen Gruppen gehören». Die Bedürfnisse der Marginalisierten würden hingegen vernachlässigt. Garbe zufolge führt das möglicherweise zu deren fortgesetzter Unterdrückung.
Was mich betrifft, so bin ich bereits zu oft haarscharf am Tod vorbeigeschrammt, um diesen herausfordern zu wollen. Am nächsten daran war ich vermutlich, als ich in Tokyo beim Abriss eines Hauses von dessen viertem Stock gefallen bin – rückwärts ins Innere des mittlerweile ausgehöhlten und dachlosen Gebäudes. Ganz unten wartete ein grosser Haufen gefährlicher Trümmer. Ich hätte den Sturz bis hinunter vermutlich nicht überlebt, und wenn, dann nur schwer verletzt.
Wie durch ein Wunder bin ich genau zwischen zwei noch verbliebene horizontale Armierungseisen gefallen. Indem ich die Arme und Beine spreizte, konnte ich mich mit den Knie- und Achselhöhlen auffangen. Dann hing ich da, schaute zum Himmel hinauf und fragte mich abermals, ob eine «höhere Gewalt» ihre Hand im Spiel hatte.
Herzlich
Konstantin Demeter
[email protected]
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Redaktion und Moderation: Christoph Pfluger
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