Wenn es einmal nicht um den Ukraine-Russland-Krieg oder jetzt um den Hamas-Israel-Konflikt geht, so beherrscht das Thema Asyl- und Flüchtlingskrise die Schlagzeilen. Und was vor nicht allzu langer Zeit noch als extrem «rechtes» Stammtischgedonner galt, ist nun politisch geradezu en vogue.
Vor wenigen Tagen erst nahm Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschen Bundestag kein Blatt vor den Mund. In einem Interview mit dem Spiegel sagte er:
«Wir müssen endlich im grossen Stil mehr und schneller abschieben.»
Das Nachrichtenmagazin machte dieses Statement nicht nur zur Headline des Interviews, sondern gar zum Titel der gesamten Ausgabe. Und die Bild goutierte diese Aussage ebenfalls mit einer Artikelüberschrift.
Stellt sich nur die Frage, ob dieses kernige Geraune, selbst wenn die ihm innewohnende Forderung umgesetzt würde, das Asyl- und Flüchtlingsproblem lösen würde. Und folgt man etwa den Analysen von Rajan Menon, emeritierter Professor für Politikwissenschaft am City College of New York und Autor des von vielen als «brillant» gepriesenen Buches «The Conceit of Humanitarian Intervention», so muss diese Frage mit einem Nein beantwortet werden.
So kommt Menon in einem Beitrag für Unherd zu dem unmissverständlichen Schluss:
«Hauptgrund für die Flüchtlingskrise ist der NATO-geführte Militäreinsatz in Gaddafis Libyen 2011.»
(Siehe auch Screenshot oben).
Gaddafi? Ja, da war doch mal jemand. Wer nicht mehr ganz so jungen Datums ist, der erinnert sich an ihn noch als exzentrischen Herrscher, der, wie etwa der Spiegel schreibt, «Phantasieuniformen und weibliche Bodyguards liebte und fast 42 Jahre lang mit eiserner Hand über Libyen herrschte».
«Gaddafi war der am längsten regierende Herrscher Libyens und einer der am längsten herrschenden Machthaber ausserhalb von Monarchien überhaupt», ist auf Wikipedia zu lesen.
Nicht nur einmal hat der Westen versucht, Gaddafi zu entmachten. 1986 etwa «hatte die Supermacht USA monatelang den grossen Schlag gegen den nordafrikanischen Kleinstaat vorbereitet», wie der Spiegel seinerzeit berichtete.
«Denn Krieg wird in Washington wieder als Mittel der Politik angesehen, sofern der Feind so klein ist wie Grenada oder Libyen – und der Gegner ein so idealer Schurke wie Gaddafi.»
Das Hamburger Blatt machte den Angriff der Vereinigten Staaten sogar zum Titelthema, und zwar mit der Schlagzeile: «Terror gegen Terror».
Da reibt man sich die Augen. Denn welches etablierte Medium würde heute noch einen militärischen Angriff der USA gegen irgendein Land oder gar gegen ein Land, das als Terrorstaat eingestuft wird, als «Terror» bezeichnen? Und welches Medium würde, wie es der Spiegel damals auch getan hat, einer Instanz wie der New York Times «alttestamentliche Unerbittlichkeit» vorhalten, weil diese den US-Angriff gegen Libyen mit «Justice is done» («Recht ist geschehen») kommentiert hatte?
Der Spiegel bezeichnete den damaligen Angriff der USA gegen Libyen auch noch als «Amerikas politisch brisantesten Kriegseinsatz seit Vietnam».
So ändern sich die Zeiten. Was geblieben zu sein scheint, ist das Unvermögen, den ursächlichen Kern der Probleme zum Thema zu machen. Und der liegt laut Menon in Sachen Flüchtlingskrise eben in der 2011er NATO-Intervention in Libyen:
«Als die Intervention dem Gaddafi-Regime ein Ende bereitete und Chaos ausbrach, begannen Migranten aus Libyen und anderen afrikanischen Ländern in weitaus grösserer Zahl das Mittelmeer nach Europa zu überqueren, viele in behelfsmässigen Booten.»
Gaddafi habe Libyen «42 Jahre lang brutal und autoritär regiert», so Menon. Doch das Land habe bis 2011 «zumindest über eine zentrale Behörde verfügt, die in der Lage war, Politik zu machen und staatliche Massnahmen zu ergreifen.» Die Militäroperation, die von der NATO geleitet wurde und offiziell unter dem Leitmotiv «Schutz der libyschen Zivilbevölkerung» stand, habe ein «Machtvakuum» hinterlassen, das «mit Anarchie und Gewalt gefüllt wurde und bis heute andauert». Menon weiter:
«Diese Katastrophe wäre vermeidbar gewesen. Die [Doktrin] Responsibility to Protect, kurz R2P [auf Deutsch ‹Schutzverantwortung›, die offiziell zum Ziel hat, massive Grausamkeiten zu unterbinden], beinhaltet nicht nur die Forderung einer militärischen Intervention als letztes Mittel, um die Zivilbevölkerung vor Schaden zu bewahren. Auch wohnt ihr der Gedanke inne, dass es wichtig ist, die Ordnung [in dem betreffenden Land] wieder herzustellen und den wirtschaftlichen Aufschwung zu unterstützen. Doch die Länder, welche die [Libyen-]Intervention 2011 anführten, waren von ersterem nicht annähernd so begeistert wie von letzterem.»
Innerhalb eines Monats nach der Intervention seien rund 600’000 Menschen aus Libyen geflohen und hätten in den Nachbarländern Schutz gesucht. Die meisten von ihnen seien Migranten aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara gewesen, die ursprünglich mit der Aussicht auf Arbeitsplätze nach Libyen gelockt worden seien.
«Doch die wirtschaftliche Verzweiflung veranlasste die Migranten aus den Nachbarländern – die meisten von ihnen aus Niger, Ägypten, dem Sudan und dem Tschad – bald wieder nach Libyen zu gehen. Einige waren auf der Suche nach Arbeit, andere auf der Suche nach einer Möglichkeit, Afrika zu verlassen», so Menon. Und so sollte es nicht lange dauern, «bis die Europäer die Auswirkungen zu spüren bekamen». Menon meint ausserdem:
«Libyen wird eine Anlaufstelle für mittellose Menschen bleiben, die nach Europa wollen, ungeachtet der Zahlungen der EU an verschiedene afrikanische Länder und sogar libysche Milizen, um den Strom zu stoppen (...) Die erste Flüchtlingskrise erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 2015, aber sie verändert erneut die europäische Politik, da rechtsextreme Parteien (...) mit den Ängsten der Öffentlichkeit spielen, um sich attraktiver zu machen. Das ‹Staatsversagen› Libyens ist über das Mittelmeer in die Länder der Führer geschwappt, die es 2011 ausgelöst haben.»
Kommentare