Als ich Volkswirtschaftslehre studierte, waren sich die Ökonomen praktisch einig: Zölle schaden mehr als sie nützen, sie werden langsam, aber sicher abgebaut und zumindest im Verkehr unter Industrieländern werden sie nicht mehr auf die Tagesordnung zurückkehren. Ich war mir eigentlich sicher, dass ich eine Diskussion, wie sie heute geführt wird, nie führen muss. Und trotzdem ist es nun so weit.
US-Präsident Trump hatte im Frühjahr im Rosengarten des Weißen Hauses eine Reihe drastischer Zollerhöhungen gegen zahlreiche Länder verkündet – mit der Begründung, so amerikanische Arbeitsplätze zurückzuholen. Er präsentierte dies als patriotische Großtat und nannte es den «Tag der Befreiung».
Ein besonders harter Zoll von 125 Prozent traf China, das Trump als den größten geopolitischen Rivalen der USA darstellt. Andere Länder wurden ebenfalls mit Strafzöllen belegt – darunter auch traditionelle Verbündete.
Doch der vermeintliche Befreiungsschlag führte zu massiven Verwerfungen auf den Finanzmärkten:
- Die Börsenkurse stürzten weltweit ab.
- Die Zinsen für US-Staatsanleihen stiegen, was Kredite für Unternehmen und Haushalte verteuerte – ein Alarmzeichen für die Wirtschaft.
- Unternehmer verloren das Vertrauen in die Planbarkeit der US-Wirtschaftspolitik.
Innerhalb von Trumps Beraterstab herrschten Chaos und Spaltung: Während Wirtschaftsminister Scott Bessent und Handelsminister Howard Lutnick den Präsidenten eindringlich zum Einlenken drängten, hielt Peter Navarro, Trumps Handelsstratege, an einem harten Kurs fest. Der Unternehmer Elon Musk mischte sich öffentlich in den Streit ein, beleidigte Navarro und wurde von diesem ebenfalls beschimpft.
Der Konflikt offenbarte die personellen und konzeptionellen Widersprüche in Trumps Team – und die Tatsache, dass politische Entscheidungen oft von Trumps Launen abhängen.
Schließlich kündigte Trump auf Truth Social eine 90-tägige Aussetzung der Zölle an (mit Ausnahme Chinas). Diese Zeit wollte er nutzen, um mit Dutzenden Staaten neue Handelsabkommen auszuhandeln, die aus seiner Sicht fairer für die USA sein sollen.
Er erklärte, die Zölle sollten nicht dazu dienen, «Länder zu verletzen, die es nicht verdient haben». Alle betroffenen Staaten hätten Verhandlungsbereitschaft signalisiert.
Diese Kehrtwende wird als dramatischer Strategiewechsel gewertet – vom Konfrontationskurs zur Diplomatie. Die Medien sprachen von einer Kapitulation Trumps. Es lässt sich aber hinterfragen, ob die Entscheidung wirklich strategisch durchdacht war oder lediglich eine notgedrungene Reaktion auf Märkte, innerparteilichen Druck und interne Konflikte.
Die Weltwoche hingegen vertrat eine andere Perspektive: Trump habe mit seiner aggressiven Zollpolitik keineswegs verloren, sondern ein starkes Signal gesetzt und sich vorteilhafte Ausgangsbedingungen für Verhandlungen geschaffen.
Die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der EU, zeigten, dass Trumps Druckmittel wirken – und dass die angebliche Niederlage in Wahrheit ein geschickter strategischer Schachzug war. Nun ist die 90-tägige Stillhaltefrist um und die Zölle stehen wieder auf der Tagesordnung. Deshalb diese Analyse. Was ist davon zu halten?
In einem Interview übte der renommierte Ökonom Jeffrey Sachs im Frühling, als Trumps Zollpolitik erstmals im Fokus der Medien stand, scharfe Kritik an der geplanten Einführung umfassender Zölle. Diese Maßnahmen seien nicht nur wirtschaftlich ineffektiv, sondern beruhten auch auf grundlegenden Missverständnissen ökonomischer Zusammenhänge.
Sachs erklärt, dass das hohe US-Handelsdefizit – rund eine Billion Dollar jährlich – nicht durch «Abzocke» anderer Länder entstehe, wie Trump behaupte, sondern durch die chronischen Defizite der USA und eine extrem niedrige Sparquote. Die Ursache sieht Sachs in strukturellen Problemen: massive Staatsausgaben, vor allem für Militär und Kriege, Steuererleichterungen für Reiche sowie eine unzureichende Steuerkontrolle. Die politische Elite in Washington betreibe einen «plutokratischen Gangster-Kapitalismus», der das Land finanziell ausbluten lasse.
Die geplanten Zölle würden laut Sachs weder das Haushalts- noch das Handelsdefizit beseitigen. Stattdessen würden sie Importe verteuern, den Lebensstandard senken und der US-Exportwirtschaft schaden. Die Idee, durch Zölle wirtschaftliche Ungleichgewichte zu korrigieren, sei «ökonomisch unhaltbar» und ignoriere die Grundprinzipien von Angebot, Nachfrage und komparativen Vorteilen im internationalen Handel.
Zudem kritisiert Sachs das Vorgehen als autoritär: Der Kongress werde umgangen, Entscheidungen würden einseitig und ohne ökonomische Analyse getroffen. Sachs warnt abschließend, dass diese Politik nicht nur der US-Wirtschaft, sondern dem globalen Handelssystem ernsthaft schaden könnte.
Das ist alles richtig. Aber es gibt noch andere Aspekte. Im Studium belegte ich auch Kurse in Dogmengeschichte, das heißt die Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen. Trumps Vorgehen erinnert mich an den Merkantilismus. Der Merkantilismus war eine Wirtschaftspolitik, die im 16. bis 18. Jahrhundert in Europa vorherrschte und darauf abzielte, die Wirtschaftskraft eines Landes durch staatlich kontrollierte Handelsüberschüsse zu stärken. Ziel war es, möglichst viele Waren zu exportieren und möglichst wenige zu importieren, um so den Reichtum des Staates zu mehren. Eine offensichtliche Möglichkeit, das zu erreichen, sind Importzölle.
Auffällig ist heute, dass Trump in der Tat vor allem die Handelsbilanz anschaut und nicht die Zahlungsbilanz. Damit wird nur der Fluss von Gütern erfasst und nicht die Dienstleistungen. Dass dies nur ein Teilaspekt ist, auf den nicht ausschließlich abgestellt werden darf, lernt man schon in einem guten Wirtschaftsgymnasium – und ist ein weiterer Grund für das mutmaßliche Scheitern von Trumps Zollpolitik.
Der Merkantilismus wurde dann von Ökonomen wie Adam Smith kritisiert, die die theoretischen Grundlagen für die freie Marktwirtschaft legten. Kritisiert wurde unter anderem die starke staatliche Kontrolle, die Innovation und Unternehmertum hemmen könne. Durch die hohe Exportorientierung und die niedrigen Löhne könne auch die Nachfrage im eigenen Land gering bleiben, was die wirtschaftliche Entwicklung bremse. Die protektionistische Politik würde – drittens – zu Handelskonflikten mit anderen Staaten führen. Merkantilistische Politik kann deshalb als eine von mehreren Ursachen von Kriegen angesehen werden.
Die Kritik am Merkantilismus und aufkommende Ideen des wirtschaftlichen Liberalismus führten dazu, dass der Merkantilismus durch andere Wirtschaftssysteme abgelöst wurde. Dass ein westlicher Spitzenpolitiker dereinst wieder merkantilistisch argumentiert, konnte ich mir nicht vorstellen, als ich bei Professor Jürg Niehans Dogmengeschichte studierte.
Die Freihandelstheorie oder Theorie der komparativen Kosten von David Ricardo besagt im Kern, dass sich der Warenaustausch zwischen zwei Ländern für beide lohnt, selbst wenn ein Land alle Güter mit geringerem Aufwand herstellen kann als das andere. Ricardo verdeutlicht seine Überlegung am Beispiel des Handels mit Tuch und Wein zwischen England und Portugal. Das sind die gedanklichen Grundlagen für die Abschaffung von Zöllen – so geschehen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Einführung einer freien Marktwirtschaft und außenwirtschaftliche Liberalisierungen nach den Modellen von Adam Smith und David Ricardo führten in Europa des 19. Jahrhunderts dann auch zu einem Wirtschaftswachstum, das Seinesgleichen sucht. Auch die Tatsache, dass während 100 Jahren nur sehr begrenzt Kriege geführt wurden, hat teilweise damit zu tun. Das lernte ich in der Dogmengeschichte.
Allerdings hat auch diese Theorie einen Pferdefuß. Sie ist vor allem dann tragfähig – das steht in den Lehrbüchern nicht drin – wenn in beiden Ländern zumindest im entsprechenden Sektor Vollbeschäftigung herrscht, was nicht vorausgesetzt werden kann. Dass in der Sozialpolitik keine Sicherungsventile wie vor der französischen Revolution durch Zünfte und andere Regulierungen existierten, führte zum heute noch gefürchteten Manchester-Kapitalismus.
Hier kommt der Zürcher Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann ins Spiel. Er erklärt Trumps widersprüchliche Zollpolitik – und beruhigt. In einem Gespräch mit dem Tagesanzeiger analysierte er die jüngsten Entwicklungen in der widersprüchlichen US-Zollpolitik unter Präsident Donald Trump.
Straumann nennt Trumps Vorgehen widersprüchlich und erratisch. Zwar könne man die harte Haltung gegenüber China aufgrund von Subventionen und Menschenrechtsverletzungen nachvollziehen – ein parteiübergreifender Konsens in den USA. Doch Trumps generelle Zollpolitik sei weder konsistent noch ökonomisch fundiert. Sie gehe von einem stark vereinfachten und oft falschen Verständnis der Handelsbilanz aus. Die Vorstellung, mit allen Ländern eine ausgeglichene Handelsbilanz zu erreichen, sei laut Straumann «ökonomisch unsinnig».
Straumann betont wie Sachs, dass Zolleinnahmen nicht ausreichen, um ein chronisches Staatsdefizit wie das der USA auszugleichen. Auch das Argument, Zölle könnten den Konsum ankurbeln oder die Industrie sofort wiederbeleben, sei ökonomisch nicht haltbar. Dafür brauche es ein langfristiges Bündel aus Investitionen in Ausbildung, Infrastruktur und Standortpolitik.
Die Einführung hoher Zölle wirke inflationstreibend. Eine dadurch erhoffte Zinssenkung – wie sie einige Trump-Anhänger erwarten – werde gerade verhindert, weil die Zentralbank bei steigender Inflation keine Spielräume für Lockerungen habe.
Straumann ordnet die Zollpolitik historisch ein und sagt ziemlich genau das, was ich oben erwähnte. Während im Merkantilismus (17./18. Jahrhundert) Zölle zur Machtpolitik gehörten, sei der Freihandel im 19. Jahrhundert vor allem in Europa eine friedenspolitische Errungenschaft gewesen – gestützt auf ökonomische Theorien (Smith, Ricardo) und die globale Vorherrschaft des British Empire. Protektionismus sei traditionell in instabilen, kriegerischen Zeiten verbreitet – ein Umstand, der auch heute in Teilen wieder zutreffe – und in der Zwischenkriegszeit.
Straumann zeigt aber Verständnis für Kritik am Freihandel. Billigimporte, Arbeitsplätze in Billiglohnländern und soziale Verwerfungen seien reale Probleme. Auch deshalb hätten Länder wie die USA und Japan im 19. Jahrhundert zunächst Schutzzölle verwendet, um ihre Industrien zu entwickeln – ein Prinzip, von dem auch China heute profitiert habe.
Protektionismus sei nicht grundsätzlich falsch, so Straumann. In bestimmten Bereichen – etwa bei Agrarprodukten oder in der Sicherheitspolitik – seien zielgerichtete Zölle gängige Praxis. Entscheidend sei aber ein präzises, maßvolles Vorgehen. Trumps Administration habe wissenschaftliche Studien zu Zöllen teils falsch interpretiert und überzogen angewandt.
Straumann rechnet nicht mit einem Wirtschaftskollaps. Die Globalwirtschaft sei anpassungsfähig, Unternehmen und Staaten könnten flexibel auf Protektionismus reagieren. Dennoch sei zu erwarten, dass mehr Protektionismus das Wirtschaftswachstum auf Dauer bremst – spürbar, aber nicht katastrophal.
Was heisst das nun aber für die betroffenen Länder? Ich gehe hier auf die Situation der Schweiz ein und stütze mich dabei auf einen Kommentar der Schweizer Wirtschaftsjournalistin Myret Zaki. Ich lernte Zaki kennen, als ich für ein mittelgroßes Unternehmen die Kommunikation verantwortete. Wenn Zaki Interviews führte, dann gab es meist nichts zu tun. Alle Zitate waren richtig wiedergegeben und der Text war kritisch, aber stimmig und in einem sehr eleganten Französisch geschrieben.
Die scharfzüngige Analystin kritisiert die langjährige Unterordnung der Schweiz unter die Interessen der USA – eine Strategie, die sich aus ihrer Sicht als kostspielig und naiv erwiesen hat. Aktueller Anlass für ihre Kritik ist die Einführung von 31 Prozent US-Strafzöllen auf Schweizer Produkte durch Präsident Trump – ein Wert, der sogar über dem für EU-Staaten (20 Prozent) liegt. Die USA haben die Schweiz zudem auf eine Liste mit Ländern «unfairer Handelspraxis» gesetzt – eine symbolisch wie wirtschaftlich gravierende Herabstufung.
Zaki sieht in diesen Maßnahmen eine direkte Konsequenz aus der übermäßigen Abhängigkeit der Schweiz von den USA, die sich über drei Jahrzehnte aufgebaut habe – technologisch, wirtschaftlich, politisch und sogar humanitär (etwa durch die Abhängigkeit vom US-Finanzierungsanteil in der internationalen Genfer Diplomatie).
Trotz zahlreicher Konzessionen habe sich das Verhältnis als einseitig und ausbeuterisch erwiesen:
- 2009: Aufgabe des Bankgeheimnisses für ausländische Kunden nach Druck aus Washington (UBS-Fall) – ohne Gegenrecht.
- 2014: Akzeptanz des FATCA-Abkommens, das der US-Steuerbehörde Zugang zu Daten in der Schweiz gibt – ohne Gegenrecht.
- 2021: Unterschrift unter die von den USA vorgeschlagene globale Mindeststeuer (15 % für multinationale Konzerne), obwohl die USA selbst nicht unterzeichneten.
- Seit 2022: Gehorsam gegenüber US-Sanktionsforderungen im Zusammenhang mit Russland – bis hin zu einer de-facto-Übernahme der US-Sanktionsliste durch die Schweizer Finanzbranche.
Trotz aller Bemühungen, den «großen Bruder» zufriedenzustellen, sei der Lohn Demütigung statt Partnerschaft. Selbst der Versuch von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter, bei einer Rede des US-Vizepräsidenten J. D. Vance in München diplomatische Brücken zu bauen, sei wirkungslos geblieben. Die Schweiz sei zum Beispiel ohne Erklärung vom US-Markt für unbegrenzte KI-Chip-Importe ausgeschlossen worden.
Zaki warnt davor, weiterhin blind auf den US-Markt zu setzen. Die demografische Realität spreche dagegen: Die USA hätten die niedrigste Geburtenrate seit einem Jahrhundert und würden an Bedeutung als Konsummarkt verlieren. Der «exklusive Club», den Trump aus den USA zu machen versuche, sei mehr Schein als Sein – Marketing und Bluff.
Für Zaki liegt der Weg aus der Sackgasse in einer strategischen Neuausrichtung des Schweizer Handels – weg von der US-Abhängigkeit, hin zu den aufstrebenden Märkten in Asien, China, Afrika und den BRICS-Staaten. Die Schweiz habe hier wichtige Gelegenheiten bereits verpasst, weil sie zu sehr darauf fixiert war, Zugang zum US-Markt zu erhalten – «um jeden Preis». Die zugespitzte Schlussfrage ihrer Analyse lautet:
«Haben wir genug gelitten – oder verlangen wir noch ein paar Peitschenhiebe mehr?»
Zaki zeichnet ein schonungsloses Bild einer Schweiz, die aus falsch verstandener Loyalität und wirtschaftlicher Hörigkeit gegenüber den USA systematisch Souveränität und Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt habe und nun auch an der Neutralität kratze – und dafür nichts als Missachtung ernte.
In Bezug auf Trumps Zollpolitik ist also Skepsis angebracht. Lediglich in Bezug auf China kann man ihr ein gewisses Verständnis entgegenbringen, weil dieses Land durch starke Exportsubventionen die Lage verzerrt. Auch dort besteht aber die Gefahr, dass Trump den Bogen überspannt. China und die USA sind in einer symbiotischen Beziehung, denn das Land der Mitte finanziert zu einem erheblichen Maße die Staatsdefizite der USA, indem es deren Staatsanleihen kauft.
Für die Schweiz heißt das: Angesichts der Tatsache, dass deren Loyalität zu Amerika auch in Bezug auf die Zollpolitik nicht belohnt wird, sei ihr zu einer mutigen, geopolitisch realistischen Neuausrichtung der Außenwirtschaftspolitik geraten.