Es ist neurotisch,
in einer neurotischen Gesellschaft
nicht neurotisch zu sein.
Fritz Perls

Liebe Freundinnen und Freunde

Er war im Pflegeheim gelandet, obwohl er erst 63 war. Natürlich hiess das nicht mehr Pflegeheim. Sondern seit 2030 «Residenz für Menschen ohne Produktivleistung» – «Remop».

Tagsüber hatte er «Freigang». Das war natürlich inzwischen etwas gefährlich. Die Elektroautos hörte man erst sehr spät. Und man konnte sicher sein, dass sie nicht anhalten würden, falls sie in einen Unfall verwickelt würden. Außerdem musste man immer schauen, wohin man trat. Hunde wurden von Robotern Gassi geführt, und die sammelten die Hinterlassenschaften ihrer anvertrauten Vierbeiner nicht auf.

Schlimmer noch: Kanaldeckel aus Metall waren längst alle beim Altmetallhändler zu Geld gemacht worden. Die entsprechenden Löcher hießen «Touristenfallen». Die allgegenwärtigen Leuchttafeln wechselten zwischen Reklame: «Gönnen Sie sich das Komplettpaket: Aus Joghurtbechern recycelter Strick, TÜV-geprüft, laktosefrei und eine leicht verständliche Suizidanleitung» und Verhaltensregeln der MuFiX-Regierung (Musk/Fink/Xi): «Hier können Sie rund um die Uhr Eigenständigkeitsvergehen anzeigen und Bürgerpunkte sammeln!.»

Eigenständigkeitsvergehen. Man hatte irgendwann im Laufe des Krieges viele verschiedene Vergehen zwecks Übersichtlichkeit unter einer zuständigen Behörde versammelt. Früher gab es Klimaleugnung, Verschwörungserzählungen, Maskenverweigerung, Verbrennerfahren, Desertation, Gemüsegartennutzung, Energieautarkie und Eigenheimbesitz. Diese Vergehen wurden bevorzugt «behandelt». Weil sie ja die Sicherheit und Freiheit gefährdeten!

Natürlich waren danach kaum Kapazitäten für die Verfolgung von Messerattacken, Mord und Vergewaltigung übrig. Aber das waren ja zum Glück nur Einzelfälle – und es gab erfolgreiche Gegenmaßnahmen: Keine Volksfeste und unbewachten Veranstaltungen mehr, viele private Sicherheitsdienste – und überhaupt weniger Menschen auf den Straßen.

Die zweite große Pandemie hatte viele Opfer gefordert. Trotz sofortiger Durchimpfung der gesamten Bevölkerung und dem Sprechverbot – beim Sprechen wurden ja bekanntlich die meisten Erreger verbreitet. Es wurde ja auch nach 2025 weiter daran «geforscht» Krankheitserreger tödlicher und ansteckender zu machen. (Irgendwie hatten es gewisse Themen nicht in die «sozialen» Medien geschafft. Lustige Katzenvideos und streitende Politikerschauspieler waren interessanter.)

Junge Menschen sah man noch seltener: Sie waren zum großen Teil im Krieg «gefallen» – natürlich wegen der Gleichberechtigung auch die jungen Frauen. Schade eigentlich. Jahrelang trugen sie Helme auf dem Kopf und Glitzer im Haar, auf den Spielplätzen war alles abgerundet und weich unterlegt. Regen und Fußmärsche wurde ihnen nicht zugemutet. In der Ukraine hat es vielleicht auch mal geregnet …

Vor Jahren, als er noch «draußen» gelebt hatte, wollte er sich nach seiner Kündigung selbständig machen. Aber mit den Datenschutzverordnungen, Lieferkettennachweisen, GEMA-Gebühren, Sozialstandardvorschriften, den neuen Sprachkontrollverpflichtungen und Kleinbetriebeabgaben sagte sein Berater: Wenn du nicht bei den neun Weltkonzernen arbeiten kannst: Vergiss es. Sammele lieber Altglas.

Irgendwie wurde er das mulmige Gefühl nicht los, den Absprung verpasst zu haben. Er hatte ab und zu von gewissen Vernetzungsgruppen gehört. Das war ihm alles zu dubios. In den Medien wurde davor gewarnt, dass hier die gefährlichen Verschwörungstheoretiker versammelt waren, die Hitler anbeteten und Umstürze planten.

Gestern hatte er eine attraktive Frau vor dem Sturz in eine Touristenfalle bewahrt. Sie hieß Sabina, war sehr dankbar, lud ihn zum Tee ein und erzählte völlig ungeniert von ihrer Vernetzungsgruppe. Dass inzwischen weltweit fast 1 Million Gruppen existierten, die wiederum untereinander vernetzt waren. Man half sich untereinander, konnte jederzeit in einer Gruppe unterkommen, wenn man auf Reisen war.

Reisen. Er wurde ein wenig wehmütig. Er war früher gern gereist, mit seiner Angela. Sie war in der letzten Pandemie trotz dreifacher Impfung gestorben. Tja, auch die beste Medizin hat ihre Grenzen.

Sabina lud ihn nach dem Tee dazu ein, er möge sich ihre Gruppe doch mal ansehen. Es würde ihm dort gefallen. Hm. Das würde er sich gut überlegen. Am Ende verdrehten sie ihm noch den Kopf. Diese Hitleranbeter.

Herzlich

Ihr Lars Ebert
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