Die Schweiz wählt in weniger als drei Wochen, viel verändern wird sich nicht. Südafrika geht im nächsten Frühjahr zur Urne, zum sechsten Mal seit den ersten freien Wahlen 1994. Bisher wurden die Wahlen stets vom African National Congress (ANC), der Partei, der auch Nelson Mandela und fast alle Freiheitskämpfer angehörten, gewonnen. Allerdings von Wahl zu Wahl immer weniger dominant und überzeugend.
Auch wenn die eine Seite behauptet, das sei eine Folge des Erwachsenwerdens einer noch jungen Demokratie, ist es eher der Tatsache geschuldet, dass der ANC, durchsetzt von Vetternwirtschaft und Korruption, jeglichen Leistungsausweis schuldig geblieben ist. 2024 könnte der ANC erstmals an der 50%-Hürde und damit an der absoluten Mehrheit scheitern.
Vordergründig sicher begrüssenswert für Südafrika, aber der ANC wird nicht auf grosse Machtanteile verzichten wollen und daher am ehesten eine Koalition mit den Economic Freedom Fighters (EFF) von Parteipräsident Julius Malema eingehen. Die EFF, die in Umfragen auf zehn bis zwölf Prozent der Stimmen kommen, sind eine marxistische Partei, die sich vor allem für die Verstaatlichung aller grösseren Firmen einsetzt.
Wohin das in Südafrika führt, kann man an den Beispielen der Stromgesellschaft (Eskom), den Eisenbahnen (Transnet/Railways), der südafrikanischen Post (South African Post Office) oder der südafrikanischen Fluggesellschaft (South African Airways) einsehen. Sie kämpfen ums Überleben oder existieren erst gar nicht mehr, bestenfalls noch auf dem Papier.
Ebenso zögert Malema nicht, bei Wahlkampfauftritten der EFF in vollen Fussballstadien jeweils die Hymne der EFFs anzustimmen: «Kill the boers!» Ich denke, das braucht man nicht explizit zu übersetzen. Ebenso wünschen die EFFs die kompensationslose Enteignung aller weissen Farmer in Südafrika.
In der Tat ist der ANC schon lange keine Erfolgsgeschichte mehr. Südafrika leidet unter einer erdrückenden Arbeitslosigkeit, einer stetig wachsenden Kriminalität und damit verbundener Angst der Bevölkerung, ökonomisch-existentiell bedingtem Hunger, einer riesigen Bildungskrise und einem in vielen der neun Provinzen miserablen Service Publique. Bref: Viele Farben der Regenbogen-Nation in deren Flagge sind am Vergilben!
Aufgrund dieses fast vollständigen politischen Versagens hat der ANC beschlossen, einen Schuldigen zu finden. Und wer sucht, der findet bekanntlich: Es ist big A. Die weiblichen und männlichen «fat cats» des ANC machen für alles, was schlecht oder nicht gut läuft, die Apartheid-Zeit verantwortlich. Auch dafür, dass viele ANC-Politiker seit Jahren primär in und für die eigene Tasche und Sippe «politisieren». Zwei Beispiele dafür:
- Gwede Mantashe, der Vorsitzende des ANC und Energieminister des Landes, meint, die Menschen könnten nach dreissig Jahren (!) ANC-Regierung nicht erwarten, dass alles gut laufen würde.
- Transportministerin Sindisiwe Chikunga äussert:
«Wir kamen 1994 an die Macht. Zu dieser Zeit gab es keine Investitionen in die Bahn. Gut, wir haben selbst lange gebraucht, um zu beschliessen, ‹ja, wir müssen in die Bahn investieren›, aber sie ging nicht durch uns, sondern durch das Apartheid-Regime kaputt.»
Komisch ist dabei nur, dass in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts und in den Nullerjahren dieses Jahrhunderts die Bahn noch gut funktionierte. Heute sind viele Schienenteile von der Natur zugewachsen, Überleitungen hängen runter, nicht nur in der ländlichen Provinz.
Der ANC muss, insbesondere vor anstehenden Wahlen, die alte und total verkratzte Platte mit dem Take-down-Apartheid-Song spielen. Der funktioniert teilweise noch immer, denn die Apartheid-Wunde sitzt tief und hält lang. Truth and Reconciliation, die Wahrheitsfindung und das Verzeihen, sind noch nicht abgeschlossen, beidseitiger Rassismus flammt da und dort nicht nur bei den EFFs auf. Die löbliche Ausnahme sind Rugby-Spiele der Springbocks, wie die Nationalmannschaft genannt wird.
Aber der Krug geht bekanntlich zum Brunnen, bis er bricht. Die Generation der um 1990 Geborenen, das Jahr, an dem Nelson Mandela freigelassen und damit die Wende in Südafrika eingeleitet wurde, genannt auch die Born-Free-Generation, interessiert sich immer weniger für den Mythos des Freiheitskampfes gegen die Apartheid. Sie fragt sich vielmehr: «Könnte man in dreissig Jahren nicht zumindest etwas Fortschritte generiert haben?» Daraus entstehen Protest- oder gar Nichtwähler, nicht anders als bei uns im sogenannten Wertewesten.
Japan, Südkorea und selbst das Nachbarland Botswana haben bewiesen, was in dreissig Jahren möglich ist: Den Lebensstandard zu verbessern und den demokratischen Lauf der Dinge in die richtige Richtung aufzugleisen. Die Story Südafrikas ist aber eine der Stagnation und des teilweisen Rückschrittes:
Die Arbeitslosigkeit beträgt bei der gesamten arbeitenden Bevölkerung 42,1%. Bei den 16-24 Jährigen 70% und bei den 25-34 Jährigen 50%. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist von 3,3 Millionen im Jahre 2013 auf 6,1 Millionen im Jahre 2022 angestiegen.
Die Bildung an den Schulen ist im wahrsten Sinne nur noch eine Katastrophe: Südafrika hat eine schwere Lese- und Rechenkrise: 81% der Schüler können nach vier Schuljahren in keiner Sprache einen Text mit Textverständnis lesen. Das erinnert in der Tat an das Bantu Education System des Apartheid-Regimes, das ja zum Ziel hatte, die Bildung der nichtweissen Bevölkerung bewusst zu limitieren.
Trotzdem sagen viele nichtweisse Menschen, dass die Bildung in der Apartheid-Zeit besser war als aktuell. Henrik Verwoed, Soziologe, Psychologe und Premier Südafrikas von 1958-1966, wäre stolz darauf! Aber ohne schnelle Verbesserung des Bildungssystems wird das Land vor die kriminellen und wirtschaftlichen Hunde gehen. Europa übrigens auch.
Die erwähnte Schuldzuweisung des ANC nennen Politbeobachter «The Big-A-Blame-Game!»: Nicht die aktuellen Politiker haben versagt, es handelt sich auch nach dreissig Jahren ausschliesslich um die Folgen der Apartheid-Politik, die an allem Schuld ist, wie der Mörder immer der Gärtner ist (Ausnahme natürlich unser Gärtner, Anselmo «Angus» McGyver!)
Ich komme zum Schluss mit einem ungeheuerlichen Beispiel von verantwortungsloser Schuldzuweisung seitens einer ANC-Politikerin:
Ende August brannte an der Albert Street in Johannesburg ein Gebäude nieder, das sich illegale Flüchtlinge als Wohnhaus unter den Nagel gerissen hatten. 77 Menschen fanden den Flammentod. Lindiwe Zulu, Ministerin für Soziale Entwicklung, immer mit einem Alptraum von einem Hut auf dem Kopf unterwegs, stand vor dem abgebrannten Gebäude und trötete emotionslos:
«Ob wir es gerne hören oder nicht: Das ist das Resultat der Apartheid-Politik. Von uns aber wird erwartet, dass wir alles in dreissig Jahren verändert haben sollten.»
Nun, Lindiwe Zulu ist für ihre bevölkerungsferne Arroganz bestens bekannt. Während des Lockdowns, Südafrika hatte bekanntlich einen der härtesten, wenn auch nur einen relativ kurzen, brüllte sie in einer Reihe anstehende Menschen mittels eines Lautsprechers an, «Social Distancing» zu bewahren. Die Polizei trieb sie auseinander und besprühte sie mit Wasserwerfern. Der Grund des Anstehens war aber, dass die Menschen ihre bescheidensten Sozialleistungen abholen wollten. Kurze Zeit später sagte sie vollen Ernstes: «Lindiwe Zulu kann und wird sich nie vom Volk abwenden. Das muss jeder verstehen!».
Das symbolisch-zynisch-desaströse Resultat der ANC-Politik hat vielleicht sogar zwei stellvertretende Namen:
- Michael Kompe: Ein fünfjähriger Junge, der 2014 in den eigenen Exkrementen einer primitivsten und ungesicherten Latrine seines von den Behörden komplett vernachlässigten Kindergartens ertrank.
- Die Life Esidimeni-Tragödie in der Provinz Gauteng, in der auch Johannesburg liegt, bei der 2016 144 Patienten einer psychiatrischen Klinik zu Tode kamen: Das Gauteng Department of Health verlegte 1500 Patienten in billigere Institutionen, die aber entweder nicht lizensiert oder personell massiv unterversorgt waren. Das Verlegungsprojekt hatte sogar einen Namen, der an menschenverachtendem Sarkasmus nicht zu überbieten ist: «The Mental Health Marathon Projekt». Die 144 Menschen verhungerten, körperlich und seelisch komplett verwahrlost.
Der Vorfall wird als «grösste Verletzung (Verstoss) gegen Menschenrechte im demokratischen Südafrika» bezeichnet (Bornman Jan: «Life Esidimeni: The Greatest Cause of Human Rights Violation in Democratic South Africa»; News24, October 22, 2017).
Konsequenzen: Im April 2017 wurden alle 144 Patientenakten der Nationalen Strafverfolgungsbehörde (NPA) zugespielt, die im September 2019 bekanntgab, zu wenig Beweismaterial für eine Anklage gegen irgendjemanden in den Händen zu haben (Jordan Nomahlubi, «Not enough evidence to prosecute Life Esidimeni Deaths»; NPA; Sunday Times, November 21, 2021).
Mmusi Maimane, der Parteipräsident von «Build One South Africa» schreibt im Mail & Guardian vom 23. September 23 treffend:
«Dieses Land muss nicht die Vergangenheit bis zur Übelkeit wiederkäuen. Wir brauchen keine uns in Rasse und Geschichte spaltende Parteien. Wir brauchen starke, proaktive Ideen für die Wirtschaft, damit unsere Bürger arbeiten können und wir unsere Kinder auf eine schon per se sehr anspruchsvolle Zukunft vorbereiten können.»
Dem ist nichts hinzuzufügen!
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Dies ist der Newsletter von Marco Caimi, Arzt, Kabarettist, Publizist und Aktivist. Aus Zensurgründen präsentiert er seine Recherchen nebst seinem YouTube-Kanal Caimi Report auf seiner Website marcocaimi.ch. Caimis Newsletter können Sie hier abonnieren.
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