Das Maß, in dem die Demokratie eingehegt wird, ist gravierend,
vor allem in EU-Ländern.
Oliver Zimmer, Historiker, 2005 bis 2022 Professor in Oxford GB.
Seither er Forschungsdirektor beim privaten Schweizer Crema-Institut
Liebe Leserinnen und Leser
Tamedia ist eine der großen Schweizer Newsplattformen. Mehr Mainstream geht nicht. Es ist eines der Leitmedien, dessen Stern sinkt und sinkt. Und doch: Am Wochenende bin ich in der Sonntagszeitung, die zum Tamedia-Konzern gehört, auf ein anregendes Interview mit dem Historiker Oliver Zimmer gestoßen (siehe Eingangszitat).
Hier sind die wichtigsten Punkte aus dem Interview stichwortartig zusammengefasst:
- Aufstieg rechtsnationaler Parteien, was der Historiker als Reaktion auf die Einschränkung demokratischer Prozesse sieht.
- Veränderung politischer Debatten: Positionen, die früher als extrem galten, sind heute Allgemeingut. Gleichzeitig nimmt der Einfluss von Gerichten und internationalen Abkommen auf die Politik zu. Die internationale Verrechtlichung nimmt der nationalen Politik Spielraum. Gerade im Asylbereich ist dies extrem.
- Einschränkung der Demokratie: Die Bandbreite politischer Entscheidungen ist auch deshalb gemäß Zimmer zunehmend eingeschränkt. Wähler fühlen sich machtlos, was populistische Bewegungen stärkt.
- Schweiz als Ausnahme: Die direkte Demokratie in der Schweiz gibt den Bürgern mehr Mitspracherechte, was die Abkehr von etablierten Parteien eindämmt. Das Konkordanzsystem verhindert die Ausgrenzung von Parteien wie der SVP und das Einziehen von Brandmauern.
- Multikulturalismus und neue Klassendiskriminierung: Zimmer kritisiert die Abwertung der «weißen Unterschicht» in Großbritannien und den radikalen Multikulturalismus, der zu Skandalen wie den Massenvergewaltigungen durch pakistanische Gangs beitrug.
- Soziale Medien und Populismus: Plattformen wie Elon Musks X bieten sowohl Gefahren durch Manipulation als auch Chancen für Meinungsfreiheit. Zensur sieht Zimmer kritisch, erkennt aber die problematischen Aspekte des Einflusses reicher Einzelpersonen.
- Gefahr für Demokratie relativiert: Zimmer warnt vor Alarmismus. Populistische Bewegungen seien nicht automatisch eine Bedrohung, sondern oft eine Reaktion auf systemische Missstände, wie die Überregulierung oder Verrechtlichung der Politik.
- Kritik an Sozialwissenschaften: Sozialwissenschaftliche Studien zum Populismus seien oft einseitig, da sie Ursachen wie die Verrechtlichung der Politik vernachläßigen.
- Freiheit vs. Risiko: Demokratie birgt immer Risiken, aber die Alternative – mehr Überwachung oder Zentralisierung – gefährdet die Freiheit. Pluralistische Systeme müssen auch radikale Meinungen aushalten können.
Über dieses Thema haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder publiziert (letztmals gestern hier). Im Oktober brachten wir dazu ein Interview mit Chris Hedges, US-Journalist und Träger des Pulitzer-Preises, der gar die Auffassung vertritt, es bleibe «nur noch die Fiktion der Demokratie – Konzerne und die Milliardärsklasse haben gewonnen» (siehe hier und hier).
Die Erodierung der Demokratie ist unverkennbar, und dennoch finden warnende Stimmen bis jetzt sehr wenig Echo in den Leitmedien. Wenn nun allerdings so jemand wie Oliver Zimmer jetzt auf Tamedia mit der Aussage zitiert wird, dass die Einschränkung der Demokratie mittlerweile durchaus als extrem bezeichnet werden kann, dann scheint es, dass das Offensichtliche nicht länger ignoriert werden kann. Immerhin ist es schon so weit, dass in einem EU-Land ein Wahlergebnis annulliert wurde, weil das Ergebnis nicht passte. Darüber habe ich am Sonntag berichtet.
Auch in der Schweiz hat der Bundesrat, also die Landesregierung, in den letzten Jahren immer öfter mit Notrecht regiert und mit Ermächtigungsgesetzen, die ihm Vollmachten übertragen haben, die gemäß Verfassung eigentlich dem Parlament obliegen.
All das steht in krassem Gegensatz zur mantraartig wiederholten Aussage, wonach wir in Westeuropa in mustergültigen Demokratien leben würden.
Je extremer ein Land diese Politik, die von internationalen Gremien definiert wird, durchzieht, desto stärker kommt jetzt die Reaktion an der Wahlurne. Das Gejammer von den bösen Populisten und dem immer breitere Schichten erfassenden Rechtsextremismus hilft nicht. Wir brauchen mehr Handlungsspielraum und mehr demokratische Entscheide, die dann auch umgesetzt werden.
Bleiben Sie uns, geneigte Leserin, geneigter Leser, gewogen!
Daniel Funk