So heftig der Krieg in Nahost, so heftig muten mitunter die Verbalattacken an, die derzeit umherfliegen. So hat Aljazeera nun einen Beitrag von Ilan Pappé veröffentlicht, der es in sich hat.
Schon die Überschrift dürfte so manchen provozieren: «Why Israel wants to erase context and history in the war on Gaza – The dehistoricisation of what is happening helps Israel pursue genocidal policies in Gaza» («Warum Israel den Kontext und die Geschichte des Krieges gegen Gaza auslöschen will – Die Enthistorisierung des Geschehens hilft Israel bei der Verfolgung seiner völkermörderischen Politik in Gaza.»)
Das Foto zeigt Palästinenser, die ihre Habseligkeiten tragen, als sie 1948 aus ihren Häusern in Al-Jalil fliehen mussten; Quelle: aljazeera.com
Hinzu kommt, dass Pappé Historiker aus Israel ist sowie Direktor des Europäischen Zentrums für Palästinastudien an der Universität der englischen Stadt Exeter. Seine Eltern stammen aus Deutschland und flohen in den 1930ern vor dem Nationalsozialismus aus dem Deutschen Reich. Ihn als antisemitisch abzukanzeln, dürfte also alles andere als ein Leichtes sein.
Pappé hebt zu Beginn seines als «Opinion» deklarierten Beitrags auf die Rede des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, vom 24. Oktober vor dem UN-Sicherheitsrat ab. Darin habe der UN-Chef das von der Hamas am 7. Oktober verübte Massaker aufs Schärfste verurteilt und zugleich die Welt daran erinnern wollen, dass das Gemetzel nicht in einem Vakuum stattgefunden habe.
«Guterres erklärte, dass man 56 Jahre Besatzung nicht von unserer Beteiligung an der Tragödie, die sich an diesem Tag abspielte, trennen kann», so Pappé. Die israelische Regierung habe Guterres’ Erklärung dann umgehend verurteilt, dessen Rücktritt gefordert und dabei behauptet, er habe die Hamas unterstützt und das von ihr verübte Massaker gerechtfertigt.
«Auch die israelischen Medien sprangen auf diesen Zug auf und erklärten unter anderem, der UN-Chef habe ‹ein erstaunliches Mass an moralischem Bankrott› gezeigt», so Pappé. Und weiter:
«Diese Reaktion deutet darauf hin, dass nun eine neue Art von Antisemitismusvorwurf auf dem Tisch liegen könnte. Bis zum 7. Oktober hatte Israel darauf gedrängt, die Definition von Antisemitismus so zu erweitern, dass sie auch Kritik am israelischen Staat und die Infragestellung der moralischen Grundlage des Zionismus beinhaltet.
Nun könnte auch die Kontextualisierung und Historisierung der Geschehnisse [in Nahost] den Vorwurf des Antisemitismus nach sich ziehen. Die Enthistorisierung dieser Ereignisse hilft Israel und den Regierungen im Westen, eine Politik zu verfolgen, die sie in der Vergangenheit aus ethischen, taktischen oder strategischen Erwägungen gemieden haben.
Der Angriff vom 7. Oktober wird von Israel als Vorwand benutzt, um eine völkermörderische Politik im Gazastreifen zu verfolgen.»
Zudem diene er als Vorwand für die Vereinigten Staaten, um zu versuchen, ihre Präsenz im Nahen Osten zu festigen, so Pappé weiter. Und er sei ein Vorwand für einige europäische Länder, im Namen eines neuen «Kriegs gegen den Terror» demokratische Freiheiten zu verletzen und einzuschränken.
Tatsächlich jedoch dürfe man die Historie nicht ausser Acht lassen, wenn man das, was sich derzeit in Israel und Palästina abspielt, wirklich verstehen wolle. Pappé:
«Der breitere historische Kontext reicht zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als das evangelikale Christentum im Westen die Idee der ‹Rückkehr der Juden› zu einem religiösen tausendjährigen Imperativ machte und die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina als Teil der Schritte befürwortete, die zur Auferstehung der Toten, zur Rückkehr des Messias und zum Ende der Zeit führen würden.»
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sei die Theologie dann aus zwei Gründen zur Politik geworden.
Erstens habe dies im Interesse derjenigen in Grossbritannien gelegen, die das Osmanische Reich auflösen und Teile davon in das britische Empire eingliedern wollten.
Zweitens sei dies bei denjenigen in der britischen Aristokratie auf Resonanz gestossen, sowohl bei den Juden als auch bei den Christen, die von der Idee begeistert gewesen wären, der Zionismus – also der Ideologie eines jüdischen Nationalstaats im geographischen Palästina – könne als Allheilmittel für das Problem des Antisemitismus in Mittel- und Osteuropa dienen.
Mit der sogenannten Balfour-Erklärung im Jahr 1917 sei schliesslich die Grundlage dafür geschaffen worden, Palästina als den gewünschten Raum für die «Wiedergeburt der jüdischen Nation» ins Visier zu nehmen. «In diesem Prozess verwandelte sich das kulturelle und intellektuelle zionistische Projekt in ein koloniales Siedlerprojekt», so Pappé, «das darauf abzielte, das historische Palästina zu judaisieren. Zugleich wurde die Tatsache ausser Acht gelassen, dass es von einer indigenen Bevölkerung bewohnt war.»
Im Gegenzug habe die recht ländlich geprägte palästinensische Gesellschaft ihre eigene antikoloniale Bewegung hervorgebracht. Ihre erste bedeutende Aktion gegen das zionistische Kolonisierungsprojekt sei der al-Buraq-Aufstand von 1929 gewesen, und seitdem habe der Kampf nicht aufgehört.
Es gebe auch noch weitere historische Faktoren, die für die gegenwärtige Krise von Bedeutung seien. Dazu gehöre «die ethnische Säuberung Palästinas im Jahr 1948, zu der auch die gewaltsame Vertreibung der Palästinenser in den Gazastreifen aus Dörfern gehörte, auf deren Ruinen einige der am 7. Oktober angegriffenen israelischen Siedlungen errichtet wurden. Diese entwurzelten Palästinenser waren Teil der 750’000 Palästinenser, die ihre Heimat verloren und zu Flüchtlingen wurden», wie Pappé zu bedenken gibt. Und weiter:
«Diese ethnische Säuberung wurde von der Weltöffentlichkeit zur Kenntnis genommen, aber nicht verurteilt. Infolgedessen griff Israel weiterhin auf ethnische Säuberungen zurück, um die vollständige Kontrolle über das historische Palästina zu erlangen, wobei so wenig einheimische Palästinenser wie möglich übrigblieben. Dazu gehörte die Vertreibung von 300’000 Palästinensern während und nach dem Krieg von 1967 und die Vertreibung von mehr als 600’000 aus dem Westjordanland, Jerusalem und dem Gazastreifen seither.»
Hinzu kämen die israelische Besatzung des Westjordanlands und die 16-jährige Belagerung des Gazastreifens, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung Kinder seien. «Im Jahr 2018 warnten die Vereinten Nationen bereits, dass der Gazastreifen bis 2020 zu einem menschenunwürdigen Ort werden würde», so Pappé. Und weiter:
«Die Isolierung des Gazastreifens, der Zaun um ihn herum und die zunehmende Judaisierung des Westjordanlands waren ein deutliches Zeichen dafür, dass [die] Oslo[er Verträge] in den Augen der Israelis eine Besetzung mit anderen Mitteln bedeutete und nicht den Weg zu einem echten Frieden.»
Pappé sieht nach wie vor nur einen «Ausweg»: Es müsse ein Regimewechsel in Israel her, der gleiche Rechte für alle vom Fluss bis zum Meer bringe und die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge ermögliche. Andernfalls werde der Kreislauf des Blutvergiessens nicht enden.
Kommentare