In seinem 2020 veröffentlichten Buch «Беспамятство. Кто начал Вторую мировую войну» (deutsch: «Besinnungslosigkeit. Wer begann den Zweiten Weltkrieg?») hat sich der russische Historiker Wjatscheslaw Nikonow mit der Frage beschäftigt, wann der Zweite Weltkrieg begann, wer dafür verantwortlich ist und welche Rolle die Sowjetunion spielte. Er ist der Enkel des damaligen sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow und sitzt heute auch im russischen Parlament, der Duma.
Seine Antworten widersprechen der gängigen Geschichtsschreibung, der zufolge der Zweite Weltkrieg mit dem faschistischen deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann. Er widerspricht auch heute verbreiteten Erklärungen in vielen Ländern Europas, insbesondere in Polen, den baltischen Staaten und der Ukraine, welche der UdSSR die gleiche Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zuschreiben wie Deutschland.
Dass der Beginn des Zweiten Weltkriegs genau auf den 1. September 1939 datiert wird, ist laut Nikonov auf Rassismus und den Wunsch zurückzuführen, die UdSSR für den Kriegsausbruch verantwortlich zu machen. Tatsächlich unterzeichnete die UdSSR als letztes Land in Europa einen Nichtangriffspakt mit Deutschland, und die Frage war damals nur, wo die deutschen Truppen nach der Eroberung Polens Halt machen würden – 1939 war die UdSSR noch nicht bereit für einen großen Krieg.
«Die Sowjetunion hatte keine reine Weste, aber sie verhielt sich in diesen Jahren viel anständiger als die westlichen Länder», fasst Nikonow seine Erkenntnisse zusammen. Der Historiker ist überzeugt, dass gerade die westlichen Mächte für den Beginn des neuen Krieges in Europa verantwortlich sind. Zunächst, indem sie den für Deutschland demütigenden Friedensvertrag von Versailles unterzeichneten, und dann, als sie das faschistische Deutschland nicht mehr kontrollieren konnten, indem sie versuchten, dessen Aggression gegen die Sowjetunion zu lenken.
Wir bringen einen Auszug aus der Einleitung von Nikonows Buch:
Haben Sie sich jemals gefragt, warum der Beginn des Weltkriegs offiziell auf den 1. September 1939 datiert wird? Warum eigentlich? Weil dann der schnelle und blutigste Krieg zwischen Deutschland und Polen begann. Was macht ihn zu einem Weltkrieg?
Könnte dies ein weltweit akzeptiertes Datum sein? Nein. Viele Historiker glauben – und das aus gutem Grund – dass der Zweite Weltkrieg gar nicht mit dem deutschen Angriff auf Polen begann.
In Japan selbst wird von einem 15-jährigen Krieg gesprochen, der 1931 begann. In China gilt der Juli 1937 offiziell als der Beginn des Zweiten Weltkriegs. In der UdSSR sprach man ab Mitte der 1930er Jahre von einem imperialistischen Krieg, der bereits im Gange war.
Entgegen der Annahme, der Aggressor habe lediglich kleinere Gebiete erobert, besetzte Japan bis Anfang 1932 eine Fläche von 1,1 Millionen Quadratkilometern in China. Dies entspricht mehr als dem Dreieinhalbfachen der Größe Polens.
Vielleicht waren die menschlichen Verluste im Krieg Deutschlands gegen Polen 1939 zu hoch? Nein. Bis zum 1. September 1939 hatten die Japaner allein in China mehr als 20 Millionen Menschen getötet, nicht eingerechnet die halbe Million Äthiopier, die von den Italienern getötet wurden, und die 1,5 Millionen Toten in Spanien.
Vielleicht wurde der Krieg zu einem Weltkrieg, weil alle Großmächte der Welt im September 1939 in ihn eintraten? Auch hier nein. Im September 1939 befand sich die UdSSR bereits seit vielen Jahren im Krieg – mit Japan und in Spanien.
Die USA hatten, sagen wir, einen viel größeren Anteil am Schicksal von China als Frankreich oder Großbritannien am Schicksal Polens im Jahr 1939. Ja, Paris und London haben Deutschland den Krieg erklärt, aber ihre Soldaten haben keinen einzigen Schuss abgefeuert, bis Hitler 1940 einen Blitzangriff auf Frankreich anfing.
Zu einem echten Weltkrieg – mit Beteiligung aller Großmächte – wurde der Krieg erst 1941, als die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten in die große Schlacht eintraten.
Warum also der 1. September 1939?
Das Privileg, bestimmte Kriege als Weltkriege zu bezeichnen, besaßen damals die großen europäischen Kolonialmächte – Großbritannien und Frankreich. Und wie konnten sie einen Krieg einen Weltkrieg nennen, wenn diese Länder selbst in keiner Weise daran beteiligt waren? Und wenn Millionen Chinesen, Äthiopier oder linke Spanier getötet werden, was ist das für ein Weltkrieg? Das ist ja kein Krieg …
Die Datierung des Beginns des Zweiten Weltkriegs auf den 1. September 1939 zeigt ein sehr starkes rassistisches Element, das für die westliche Zivilisation zu dieser Zeit typisch war. Diese europäisch geprägte, westlich geprägte Weltsicht herrschte damals vor und herrscht in vielerlei Hinsicht auch heute noch vor.
Und noch ein Punkt. Wenn man den Beginn des Zweiten Weltkriegs auf den 1. September 1939 datiert, ist es einfacher, Moskau die Schuld an seinem Beginn zu geben. Die Logik ist einfach: Am 23. August wurde der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt unterzeichnet, und am 1. September griff Deutschland Polen an.
Unmittelbar nach dem Pakt heißt nicht wegen des Paktes. Aber dieses Argument ist die Grundlage für alle Anschuldigungen gegen die UdSSR, den Krieg begonnen zu haben. Und die Westmächte oder Polen erweisen sich danach als unschuldig. Auch Deutschland scheint nichts damit zu tun zu haben. Das ist aber überhaupt nicht wahr.
«Es ist völlig klar, dass der Zweite Weltkrieg eine Gemengelage von Konflikten war», schreibt der führende britische Historiker des Zweiten Weltkriegs, Antony Beevor. Diese Ereignisse begannen lange vor 1939.
Die Sowjetunion war sicherlich nicht der Schuldige. Und sie hat weit mehr als jede andere Macht getan, um eine Weltkatastrophe zu verhindern. Und dann, um die wahren Kriegsverursacher zu vernichten – das faschistische Deutschland und das militaristische Japan.