Gestern begann in Israel das neue Schuljahr. Tausende Schüler von rund 70 Oberschulen streikten allerdings und forderten einen Geisel-Deal und einen Waffenstillstand in Gaza. Rund 100 von ihnen demonstrierten laut Haaretz auf dem «Platz der Geiseln» in Tel Aviv, bevor sie zum israelischen Bildungsministerium marschierten und den Eingang blockierten. Andere hätten auf Tel Avivs Ayalon-Autobahn demonstriert, die die Stadt mit den wichtigsten Autobahnen Israels verbindet.
Laut der israelischen Zeitung haben jugendliche Aktivisten über Nacht die Tore von 17 Schulen in Ramat Gan, Givatayim und Tel Aviv verschlossen und Schilder aufgestellt, auf denen stand, dass die Schüler «nicht lernen werden, mit der Geiselnahme zu leben. Die Schlüssel liegen in den Händen von Bildungsminister Kisch».
Bildungsminister Yoav Kisch, ehemaliger Abgeordneter in der Likud-Partei von Premierminister Benjamin Netanjahu, habe sich nämlich gegen einen Geiselnahme-Deal ausgesprochen. Im Juli habe er dem öffentlich-rechtlichen Radiosender Bet erklärt, dass «die Möglichkeit einer Freilassung der Geiseln durch einen Vermittlungsvorschlag gleich null» sei.
Auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv sagte der Gymnasiast Rotem Richeter auf Englisch, die Schüler sollten «heute mit der 12. Klasse beginnen. Stattdessen bin ich hier». Er erläuterte:
«Ich bin hier, weil der Vertrag, der einen Staat und seine Bürger verbindet, gebrochen wurde. Ich bin hier, weil niemand vermisst wird – nicht die Geiseln, die seit fast zwei Jahren gefoltert werden; nicht die trauernden Familien, die eine unfassbare Tragödie erlitten haben; nicht die Überlebenden des 7. Oktober, die Waisenkinder, die Soldaten oder auch meine Freunde und ich – wir alle sind nur Bauern im zynischen und zerstörerischen Spiel der Regierung.
Und das ist nur die israelische Seite: Palästinensische Kinder in meinem Alter und jünger werden zu Tausenden getötet, und die Zahl steigt weiter. Ich appelliere an euch, die internationale Gemeinschaft, aktiv zu werden und euch uns in unseren Bemühungen anzuschließen, den Krieg zu beenden, das Blutvergießen zu stoppen und die Geiseln nach Hause zu bringen.»
Reut, eine Zwölftklässlerin aus Pardes Hannah-Karkur in Zentralisrael, erklärte:
«Wir haben beschlossen, nicht zur Schule zurückzukehren, während sie in Gaza vergewaltigt werden. Es ist unmöglich, so zu tun, als wäre alles normal, wenn unsere Brüder und Schwestern schon fast zwei Jahre dort sind. Das ist kein Leben, das ist keine Kindheit.»
Die Schülerin Naomi Or Afek beklagte:
«Zwei Jahre – das ist nicht mehr nur eine Tragödie, das ist kein schreckliches Ereignis mehr. Das ist Alltag. Und Routine ist das Schlimmste, denn Routine bedeutet Gleichgültigkeit. Und Gleichgültigkeit wird unser Ende sein. Ich bin nicht bereit, in einer solchen Routine zu leben, und ich bin nicht bereit, dass meine Kinder und viele andere wie ich darin aufwachsen. Deshalb hören wir heute auf (...) und zeigen, dass wir nicht bereit sind, an dieser ‹Geisel-Routine› teilzunehmen.»
Der Zwölftklässler Hanoch Cohen sagte, der Bildungsminister habe alle Schüler gebeten, den heutigen ersten Schultag mit weißen Hemden zu feiern, und fragte: «Welche Feier?»:
«Seit fast zwei Jahren ist jede Feier nur einseitig. Als Gesellschaft, deren zentraler Wert Solidarität ist, haben wir nichts zu feiern. Wir haben uns zum Streik entschlossen, um unsere Solidarität mit den Geiseln zu demonstrieren, einfach weil sie Israelis waren – wie wir. Dieselbe Solidarität, die es uns bald ermöglichen wird, die besten Jahre unseres Lebens dem Staat zu widmen.»
Nahar Sidhi, ein studentischer Aktivist für die Geiseln, teilte mit:
«Ein Bildungssystem, das sich mit dem Schweigen beschäftigt, anstatt zu bilden und zu fördern, lässt eine ganze Generation junger Männer und Frauen im Stich, die keine grundlegenden Voraussetzungen für ein Leben in der Gesellschaft erhalten.»
Haaretz zufolge hat das Bildungsministerium unter Kisch Maßnahmen gegen regierungskritische Pädagogen ergriffen. Ende August habe das Ministerium mindestens elf Schuldirektoren zu Klarstellungen im Zusammenhang mit einem Video aufgefordert, in dem die Freilassung der Geiseln und ein Ende des Gaza-Krieges verlangt wurden.
Im Juli habe Kisch erklärt, er werde den nationalen Israel-Preis niemandem verleihen, der gegen staatliche Institutionen vorgeht. Im August sei ein Pädagoge der israelischen Pfadfinder nach über zehnjähriger Tätigkeit von der Bewegung entlassen worden, nachdem er Kischs Politik auf seiner persönlichen Facebook-Seite kritisiert hatte.
Yotam Cohen, der Bruder der Geisel Nimrod Cohen, schrieb gemäß Haaretz am Montag auf X:
«Nichts ist so stärkend und berührend, wie zu sehen, wie unsere Jugend auf die Straßen und Kreuzungen geht.»