Der israelische Historiker Ilan Pappe sprach in Kopenhagen auf einer Konferenz über den Genozid, den Israel an den Palästinensern im Gazastreifen verübt. Al Jazeera nutzte die Gelegenheit, um Pappe, einer der führenden israelischen Kritiker der Politik seines Landes, zu interviewen.
Pappe beschrieb die gegenwärtige Phase des Zionismus als «Neo-Zionismus». Diese Phase sei gekennzeichnet durch extremere und aggressivere Methoden, die darauf abzielen, die vollständige Kontrolle über das historische Palästina zu übernehmen und die palästinensische Bevölkerung systematisch zu vertreiben. Im Gegensatz zu früheren Generationen von Zionisten, die ihre Ziele schrittweise verfolgten, versuche die neue Führung, ihre Pläne in kurzer Zeit zu verwirklichen, während sie gleichzeitig ein israelisches Imperium schaffen wolle, das regional gefürchtet oder respektiert wird.
Der Historiker zeigte sich schockiert über die europäische Reaktion auf den jüngsten Krieg gegen Gaza, insbesondere, weil Europa sich als ein Modell der Zivilisation versteht, jedoch die offensichtlich dokumentierten Verbrechen ignoriert. Er sieht diese Entwicklungen im Kontext eines globalen Machtgefüges, das von populistischen Politikern wie Donald Trump, multinationalen Konzernen und einem zunehmenden Rechtsextremismus geprägt ist. Der künftige US-Präsident und dessen Verbindungen zu Persönlichkeiten wie Elon Musk, die Israels Politik offen unterstützen, hätten seiner Meinung nach verheerende Auswirkungen auf die Region. Pappe erläuterte:
«Die einzige gute Nachricht ist, dass populistische Führer wie Trump und unberechenbare Persönlichkeiten wie Musk in der Regel wenig fähig sind. Sie werden die US-Wirtschaft und den internationalen Status der USA mit sich hinabziehen, was letztlich schlecht für die USA ausgehen wird. Langfristig könnte dies zu einer geringeren amerikanischen Einflussnahme im Nahen Osten führen, was aus meiner Sicht eine positive Entwicklung wäre.»
Trotz der gegenwärtigen Herausforderungen sieht Pappe Hoffnung in der Entstehung eines globalen Bündnisses, das sich gegen Ungerechtigkeit, Kolonialismus und Umweltzerstörung einsetzt. Er betont jedoch, dass es an einer zentralen Organisation mangelt, die diese Solidarität bündelt und effektiv umsetzt. Zudem fordert er ein Umdenken hin zu pragmatischeren Ansätzen, bei denen auch unterschiedliche Meinungen innerhalb der Bewegung akzeptiert werden, um gemeinsame Ziele wie die Beendigung des Genozids in Gaza zu erreichen.
Mit Bezug auf die laufenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand wollte Al Jazeera wissen, ob Palästina Frieden genießen können wird. Pappe:
«Das weiß ich nicht. Aber ich denke, selbst ein Waffenstillstand in Gaza bedeutet leider nicht das Ende, wegen des Genozids. Hoffentlich wird es genug Kräfte geben, um ihn, wenn schon nicht zu stoppen, zumindest einzudämmen oder zu begrenzen. Langfristig sehe ich einen Prozess, der lange dauern wird. Ich spreche von 20 Jahren, aber ich glaube, wir stehen am Beginn dieses Prozesses – des Prozesses der Dekolonisierung eines Siedler-Kolonialprojekts. Es könnte in verschiedene Richtungen gehen. Die Geschichte zeigt uns, dass Dekolonisierung sehr gewaltsam sein kann und nicht notwendigerweise zu einem besseren Regime führt. Oder es könnte eine Chance sein, etwas viel Besseres zu schaffen, ein Win-win für alle Beteiligten und die Region insgesamt.»
Pappe glaubt, dass sich die jüngere Generation, insbesondere außerhalb Israels, zunehmend von der Politik des Landes distanziert. Dies sei vor allem auf den Zugang zu unabhängigen Informationen zurückzuführen, der die moralischen Verfehlungen Israels offenlege. Innerhalb Israels hingegen sei die Gesellschaft durch ein stark ideologisiertes Bildungssystem geprägt, das junge Menschen von klein auf in einem rassistischen und extremistischen Denken verankere. Eine Veränderung in Israel erfordere daher tiefgreifende Bildungsreformen. Letztlich sei die Frage nicht, ob sich die Lage für die Palästinenser verändern werde, sondern wann.
Ilan Pappe ist unter unter anderem Autor der Bücher «The Ethnic Cleansing of Palestine» («Die ethnische Säuberung Palästinas») und «Ten Myths About Israel» («Was ist los mit Israel? Die zehn Hauptmythen des Zionismus»).