Am Ende dieser Legislaturperiode wird es eher mehr als weniger
sozioökonomische Ungleichheit geben.
Armutsforscher Christoph Butterwegge am 29. Oktober 2021
Liebe Leserinnen und Leser!
Zu große Ungleichheit in einer sozialen Gemeinschaft ist mit zahlreichen negativen Effekten verbunden. Der Focus brachte dies 2021 wie folgt auf den Punkt:
«Die wachsende Ungleichheit ist das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, weil sie für sozialen Konfliktstoff zwischen deren Mitgliedern sorgt, ökonomische Krisentendenzen verschärft und ökologische Nachhaltigkeit verhindert ... Den gesellschaftlichen Zusammenhalt kann man bloß stärken, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich ein Stück geschlossen wird.»
Dennoch attestierte im August vergangenen Jahres sogar SPD-Chef Lars Klingbeil Deutschland ein Gerechtigkeitsproblem. «Die Lücke geht auseinander zwischen Arm und Reich!» Das berichtete die Bild und kommentierte dazu: «Ein Satz wie ein Peitschenhieb!»
In der Tat, denn hier zeigt sich die Verlogenheit selbst von Parteien wie der SPD, die den Begriff «sozial» in ihrem Namen trägt. Tatsächlich hatte die Ampel-Koalition unter SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz die Parole ausgegeben, man wolle die Ärmeren mit Mindestlohnerhöhung, Bürgergeld und einer Kindergrundsicherung stärken. Und dennoch: Die Ungleichheit in unserer Gesellschaft bleibt weiter bestehen.
Sprich, mit Aktionismus täuscht man vor, man wolle etwas erreichen, in Wahrheit aber geht alles so weiter wie gehabt.
Das aktuellste Täuschungsmanöver aus der Politik: Scholz’ Vorschlag, er wolle Menschen mit geringem Einkommen den Einkauf erleichtern – und dafür solle die Mehrwertsteuer für Lebensmittel von 7 auf 5 Prozent gesenkt werden.
Sicher, eine Absenkung der Mehrwertsteuer wäre natürlich schön. Jede Steuer ist allein schon deshalb zu hoch, wenn man sich vergegenwärtigt, welcher Irrsinn mit Steuern alles finanziert und wieviel Sinnvolles nicht finanziert und unterstützt wird.
Aber da fragt man sich nicht nur: wieso erst jetzt dieser Vorschlag und nicht gleich zu Beginn von Scholz’ Bundeskanzlerdasein? Und wieso zum Beispiel nicht auch die erhöhte Mehrwertsteuer von 19 Prozent wieder auf das Niveau von 2007, nämlich auf 16 Prozent, oder gar noch darunter absenken? Auch stellt sich die Frage: Wird eine solche Steuersenkung am Ende etwas Wesentliches an der Reichtumsverteilung ändern? Wohl kaum.
In diesem Zusammenhang macht das kürzlich erschienene Buch «Wem gehört Deutschland?» von Jens Berger w auf folgendes Problem aufmerksam: In Deutschland werden Vermögen nicht mehr erarbeitet, sondern vererbt. Von den zehn reichsten Deutschen haben acht ihr Vermögen von der Vorgängergeneration erhalten – einzig Dieter Schwarz (Lidl) und Klaus-Michael Kühne (Kühne & Nagel) sind «Selfmade-Milliardäre» (siehe die Transition News-Buchrezension «Wie sich Deutschland in zehn Jahren verändert hat»). Das heißt, die Allermeisten habe gar keine Chance, wirklich zu Vermögen zu kommen.
Was Scholz’ Mehrwertsteuersenkungsansinnen angeht, so schüttelt etwa der designierte FDP-Generalsekretär Marco Buschmann mit dem Kopf. Dessen Vorschlag, die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel von 7 auf 5 Prozent zu senken, sei lediglich ein Wahlkampfmanöver. Im Interview mit Welt TV sagte Buschmann: «Das grenzt ja fast schon an Wählertäuschung.» Und er ergänzt:
Die FDP habe in der Regierung drei Jahre lang verhindert, «dass SPD und Grüne Lebensmittel teurer machen. Da sollte eine Fleischabgabe kommen. Da sollte eine Zuckerabgabe kommen. An allen Ecken und Enden sollte das tägliche Leben teurer werden. Das haben wir verhindert.» Dass der SPD jetzt, kurz vor dem Wahlkampf, einfalle, «dass sie etwas tun möchte, kann man getrost unter Wahlkampf abbuchen».
Aber nun, um das Ganze mal ins Positive zu drehen, fragen wir uns, was Scholz von Beginn an seiner Regierungszeit zum Beispiel hätte machen können. Eine ganze Menge! Etwa sich um die Selbständigen zu kümmern, von denen ein Großteil «fatal verzweifelt» ist, wie die Welt gestern schrieb. In dem Beitrag heißt es unter der Zwischenüberschrift «Wir brauchen jetzt kluge wirtschaftspolitische Konzepte»:
«Ein großes Problem besteht aus Sicht der Selbstständigen darin, dass sie sich von den politisch Verantwortlichen im Stich gelassen fühlen. So erbrachte eine Umfrage des Verbands der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD), die in den Selbstständigen-Report 2024 eingeflossen ist: Ganze 87 Prozent der Solo- und Kleinstunternehmen fühlen sich von der momentanen Regierung wenig bis gar nicht respektiert.
‹Das wird sich nur ändern, wenn die nächste Wirtschaftsministerin oder der nächste Wirtschaftsminister eine gezielte Strategie nicht nur für Start-ups, sondern auch speziell für Solo-Selbstständige entwickelt›, sagt dazu Andreas Lutz, Vorstand des VGSD. Zudem fordert er eigens zuständige Beamte, die sich in der Tiefe mit den Anliegen der Selbstständigen beschäftigen.»
Zitiert wird auch Matthias Henze, Co-Gründer und CEO der IT-Firma Jimdo, die sich auf kleine und mittelständische Gesellschaften spezialisiert hat. Ihm zufolge vermitteln die Ergebnisse der VGSD-Umfrage eine klare Botschaft an die Adresse der neuen Regierung:
«Wir brauchen jetzt kluge wirtschaftspolitische Konzepte von den Parteien im Wahlkampf, die Selbstständige als treibende Kraft des Wandels anerkennen.»
Immerhin seien rund 90 Prozent der deutschen Unternehmen Kleinstunternehmen, so Henze weiter. Herrsche bei ihnen Pessimismus, könne es der Gesamtwirtschaft ebenfalls nicht gut gehen.
Geld genug ist auf jeden Fall da. So kassieren die Dax-Konzerne Milliardensubventionen vom Staat. Für die Konzernlenker und ihre Aktionäre mag dies erfreulich sein, mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit scheint daraus aber irgendwie nicht erwachsen zu wollen ...
Alles Gute – trotz allem!
Torsten Engelbrecht