«Man steigt nicht zwei Mal in denselben Fluss», wussten schon die alten Griechen. Diese Erfahrung musste nun auch Jens Berger machen, politischer Blogger der ersten Stunde und Chefredakteur der NachDenkseiten, eines der reichweitenstärksten Portale der alternativen deutschen Medienszene. Berger hat nämlich das Kunststück fertiggebracht, gleich zwei Mal das gleiche Buch zu schreiben.
«Wem gehört Deutschland?», so heißt es, ist einmal 2014 erschienen – damals wurde es sogar zum Spiegel-Bestseller – und auf Betreiben seines Verlages nochmals im Mai 2024. Allerdings ist das Resultat zehn Jahre später ein anderes.
Deutschland ist inzwischen das EU-Land, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich mit am größten ist. «Ich war selbst überrascht, dass sich in zehn Jahren so viel verändert hat», sagt Berger. Er spricht denn auch von «zehn vertanen Jahren».
Berger ist 2014 mit dem Anspruch gestartet, «das komplexe und gesellschaftlich hochbrisante Thema Vermögensverteilung erstmals allgemeinverständlich einem größeren Publikum näherzubringen». Und dies tut er auch heute wieder mit größtmöglicher Akribie.
Allein schon das Inhaltsverzeichnis liest sich wie das Vermögensregister eines Landes: Geldvermögen, Aktienvermögen, Betriebsvermögen, Immobilienbesitz, Rentensystem, Altersvorsorge, Lebensversicherungen, Erbschaften – Berger lässt nichts aus, selbst die Besitzverhältnisse des deutschen Waldes analysiert er.
Vermögen werden größtenteils vererbt
Die zentrale Erkenntnis lautet: In Deutschland werden Vermögen nicht mehr erarbeitet, sondern vererbt. Von den zehn reichsten Deutschen haben acht ihr Vermögen von der Vorgängergeneration erhalten – einzig Dieter Schwarz (Lidl) und Klaus-Michael Kühne (Kühne & Nagel) sind «Selfmade-Milliardäre».
Die reichsten Deutschen indes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, strichen 2023 allein an Dividenden 1,8 Milliarden Euro ein. Beide haben von ihrer Mutter Johanna Quandt unter anderem 47 Prozent Anteile an dem Automobilbauer BMW geerbt. Johanna Quandt wiederum war die dritte Ehefrau des «Industriellen und Kriegsverbrechers Herbert Quandt».
Dieser Fall ist typisch für die Reichen in Deutschland. Berger schreibt dazu:
«Mehr denn je ist Deutschland keine Leistungsgesellschaft, sondern eine Erb-Oligarchie: Das Vermögen gehört zu großen Teilen Dynastien, die oft bis in den Nationalsozialismus und das Kaiserreich zurückreichen.»
Das Problem der ungleichen Verteilung ist in den vergangenen zehn Jahren freilich nicht kleiner, sondern größer geworden. Berger spricht in diesem Zusammenhang auch von einer «Multikrise» aus Corona, Ukraine-Krieg, Inflation und hohen Energiekosten.
«Steigende Preise und politische Weichenstellungen führten dazu, dass die Vermögensschere sich noch weiter öffnete, und die gesamten Auswirkungen dieser Entwicklungen sind noch nicht einmal absehbar.»
Profiteure dieser Entwicklung sind naturgemäß all die «Kriegs- und Krisengewinnler», angefangen von den Rüstungskonzernen über die Impfstoffhersteller und Energieunternehmen bis hin zu den Luxusgüterproduzenten.
Die „Impfmilliardäre“ Sahin und Türeci
Doch ein Fall sticht unter all diesen besonders heraus. Die Rede ist von Ugur Sahin und Özlem Türeci, den Gründern des Mainzer Biotechnologieunternehmens «BioNTech». Das Ehepaar kommt inzwischen auf ein Vermögen von 4,9 Milliarden Euro, das nicht trotz, sondern wegen der Krise entstanden ist.
Zudem sind beide «waschechte Selfmade-Milliardäre» und die einzigen Mitglieder mit Migrationshintergrund in der «Belle Etage» des Landes. In der jährlich vom Manager Magazin herausgegebenen Top-500-Liste der reichsten Deutschen haben sie sich aus dem Stand auf Platz 41 hochkatapultiert. «Einen so schnellen Aufstieg in der Liste der Multimilliardäre hat es in Deutschland noch nie gegeben», betont Berger.
Verblüffend ist zudem, dass in Deutschland nahezu alles gezählt, gemessen, gewogen, verwaltet und statistisch erfasst wird, über den Reichtum des Landes aber nur wenig bekannt ist. Die offiziellen Statistiken jedenfalls sind größtenteils untauglich und nicht zu gebrauchen.
Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Bundes und der Länder (EVS) etwa, die auch die Grundlage für den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist, berücksichtigt keine Haushaltseinkommen von mehr als 18.000 Euro netto pro Monat. Zudem wird das Betriebsvermögen nicht erfasst.
Und auch der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes, der jährlich die Einkommensverhältnisse von 390.000 bundesdeutschen Haushalten abfragt, ist für Fragen der Vermögensverteilung vollkommen belanglos, da er erst gar keine Fragen zum Vermögen stellt.
«Es ist eine Schande, dass der Staat offenbar nicht das geringste Interesse daran hat, Licht ins Dunkel der Vermögensverteilung zu bringen.»
Von der Vermögens- zur Machtkonzentration
Der Autor hegt den Verdacht, dass diese «Blindheit der Ämter» durchaus politisch gewollt ist. Wenn allein die 500 reichsten Deutschen mehr besitzen als die 40 Millionen Bundesbürger am unteren Ende der Vermögensskala zusammengenommen, dann bedeutet dies nicht nur eine enorme Vermögens-, sondern zugleich auch eine enorme Machtkonzentration.
«Wer Vermögen besitzt, hat auch den Hebel in der Hand, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen und politische Debatten zu lenken. Dafür sorgen nicht zuletzt die zahlreichen Denkfabriken, die auffällig oft von Familienstiftungen der Superreichen finanziert werden.»
Tatsächlich hat die Politik die zunehmende Ungleichheit mit ihren marktliberalen Reformen sogar noch befeuert. Initialzündung hierfür war das «Lambsdorff-Papier» aus dem Jahr 1982 des damaligen Bundeswirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff (FDP), das auf eine konsequente Angebotspolitik setzte und in der Bundesrepublik gleichsam die «neoliberale Revolution» einläutete.
Ein weiterer Meilenstein war dann die Aussetzung der Vermögensteuer im Jahr 1997, dem ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Besteuerung von Immobilienvermögen voranging. Mit der «Agenda 2010» der rotgrünen Koalition setzte sich dann Anfang der Nuller Jahre der Trend, die Steuern für die Reichen zu senken, sogar noch beschleunigt fort. Unter anderem wurden die Veräußerungsgewinne von Unternehmensanteilen komplett steuerfrei gestellt, was nicht zuletzt auch die Auflösung der «Deutschland AG» zur Folge hatte.
Mit der Politik rein und wieder raus aus der Misere
Für Berger jedenfalls ist klar: Wenn die Politik mit ihren Entscheidungen die zunehmende Ungleichheit in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten geradezu befeuert hat, dann führt der Weg aus der Misere heraus auch nur über die Politik. Als entscheidende Stellschrauben diskutiert Berger hier staatliche Eingriffe in das Schenkungs- und Erbschaftssteuerrecht sowie eine Reform des Steuersystems insgesamt.
Vorbild ist für ihn die Periode der «großen Kompression», also die Zeit zwischen 1945 und 1980, in der sich in fast allen westlichen Industrienationen die Vermögensschere immer weiter geschlossen hatte. Allerdings sieht Berger derzeit die Zeit noch nicht reif für grundlegende Veränderungen.
Das Thema Vermögensverteilung werde derzeit nur «unter ferner liefen» diskutiert, beklagt er, während Themen wie Krieg und Frieden oder davor Corona den öffentlichen Diskurs beherrschten. 2014 indes war dies noch anders. Damals, nach Finanz- und Eurokrise, war die Zeit reif für Veränderung, das «Window of opportunity», das Fenster der Möglichkeiten, einen Spalt breit geöffnet, meint Berger.
Jens Berger: Wem gehört Deutschland?
Westend Verlag 2024. 272 Seiten; ISBN 9783864892844; 24 Euro
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