Am 1. September vor 86 Jahren begann der offiziellen Geschichtsschreibung zufolge der Zweite Weltkrieg. Am ersten Septembertag des Jahres 1939 überfielen die faschistischen deutschen Truppen das Nachbarland Polen. Als Anlass gaben die deutschen Faschisten den angeblich polnischen Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz aus – eine Operation «unter falscher Flagge» wie aus dem Lehrbuch.
Dieser Tag wurde in der DDR, die von 1949 bis 1990 existierte, als «Weltfriedenstag» begangen, während er in der alten BRD 1957 von Gewerkschaften und Friedensinitiativen erstmals als «Antikriegstag» begangen wurde. Und so wird bis heute im größeren Deutschland unter diesen beiden Bezeichnungen an das geschichtliche Ereignis und seine Folgen erinnert.
Foto: Tilo Gräser
Das taten am Sonntag in Berlin verschiedene Gruppen und Organisationen unter der Schirmherrschaft der Friedenskoordination Berlin (Friko) mit Infoständen sowie einem umfangreichen Bühnenprogramm mit Musikern und Gesprächsrunden. Das Spektrum der teilnehmenden Gruppen reichte vom Freidenkerverband und der Kommunistischen Partei über die Friedensglockengesellschaft Berlin und die Tageszeitung junge Welt bis zu Solidaritätsinitiativen für Gaza und zahlreichen Gewerkschaftsbasisgruppen. Das Motto der Veranstaltung lautete:
«Ja zur Friedensfähigkeit!
Nein zur Kriegstüchtigkeit!»
Entsprechend breit und vielfältig war auch das Themenspektrum, von der Aufrüstung und dem damit verbundenen Sozialabbau über den Ukraine-Krieg und den israelischen Völkermord im Gaza-Streifen bis zur Meinungsfreiheit, die zunehmend bedroht wird. Gekommen waren an diesem sommerlichen Tag zum Veranstaltungsort am Neptunbrunnen im Zentrum der deutschen Hauptstadt schätzungsweise etwas mehr als 400 Menschen – gegenüber vom Roten Rathaus, vor dem vier ukrainische Flaggen sowie eine israelische neben der Berliner Fahne, der deutschen und der EU-Fahne wehten.
Das war ein passendes Sinnbild für den Unterschied zwischen der offiziellen Politik in Deutschland und dem Anliegen der Friedensbewegung. Allerdings bekamen deren Vertreterinnen und Vertreter diesmal auch einiges an Unmut und Unwillen von Passanten zu spüren, wenn diese um Spenden gebeten wurden, wie mir Laura von Wimmersperg von der Friko berichtete. Sie ist seit den 1980er Jahren in der Berliner Friedensbewegung aktiv.
Die Berliner und ihre Gäste genossen den Tag in Frieden, mit der in diesem Jahr seltenen Sommersonne, und schienen sich nicht um die Kriegsgefahr und die Kriege in anderen Weltgegenden zu kümmern. Doch davon ließen sich die Organisatoren und die teilnehmenden Akteure der Veranstaltung nicht entmutigen.
Warnung vor der Kriegspolitik
So machte der Friedensaktivist und Rüstungsexperte Lühr Henken anhand von Daten und Fakten auf die Hintergründe und damit verbundenen Interessen der geplanten massiven Aufrüstung in Deutschland aufmerksam. In seiner Rede zu Beginn des Aktionstages ging er insbesondere auf den Ukraine-Krieg ein.
Russland führe diesen Krieg, um die Aufnahme der Ukraine in die NATO abzuwenden. Es wolle verhindern, «dass die NATO ihre Stationierungsräume für Panzer und Raketen an Russlands Südgrenze erweitert. Dies wäre für Russlands Sicherheit existenziell bedrohlich, so wie russisches Militär in Mexiko und Kuba für die USA bedrohlich wäre.»
Henken stellte außerdem klar, dass «es sich bei der behaupteten Bedrohung durch Russland um eine Lüge handelt».
«Angst vor Russland zu schüren, ist ein seit vielen Jahrzehnten probates Mittel, um eine Begründung für die eigene Aufrüstung zu kreieren. Diesmal ist es die Aufrüstung Europas, die Macron und Merkel schon 2017 mit ihren sehr kostspieligen Jahrhundertprojekten für die Luftwaffe FCAS und das Heer MGCS auf den Weg gebracht haben. Unter deutsch-französischer Führung soll sich so in 15 bis 20 Jahren eine militärische Weltmacht Europa herausbilden.»
Ebenso kritisierte er die Militarisierung der Gesellschaft: durch eine Verdopplung der Soldatenzahl, damit einhergehend die Einführung der Wehrpflicht, den weiteren Einzug von Militärforschung an Hochschulen und die Militarisierung des Gesundheitswesens. Anders als von Regierungsseite behauptet, diene dieser Rüstungswahn nicht der Verteidigung, «sondern die Europäer mit Deutschland an der Spitze fordern die Atommacht Russland militärisch heraus».
«Sie bedrohen Russland existenziell und setzen eine Eskalationsspirale in Gang, die Russland zu Gegenmaßnahmen provoziert. Die Kriegsgefahr steigt. Dem kann nur durch Verhandlungen begegnet werden, sonst rasseln wir in einen Atomkrieg hinein. Die Konfliktlösung geht nur über Verhandlungen.»
Foto: Éva Péli
Die Folgen von Aufrüstungswahn und Kriegshetze für die soziale Situation der Menschen in Deutschland beleuchtete eine Gesprächsrunde mit aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern gegen Ende der Veranstaltung. So wurde auch deutlich, dass nicht alle Gewerkschaftsmitglieder den Kurs der Gewerkschaftsorganisationen in Deutschland unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) mitmachen, die eher die Aufrüstungs- und Kriegspolitik der Bundesregierung unterstützen.
Forderung nach Rücktritt der Regierung
Britta Brandau von der Gewerkschaft ver.di machte unter anderem darauf aufmerksam, wie zivile Strukturen «kriegstüchtig» gemacht werden, begründet mit einem drohenden Überfall durch Russland 2030. Sie stellte eine klare Forderung:
«Wir fordern die Bundesregierung auf, morgen zurückzutreten. Morgen ist Montag, ich glaube, das können sie tun. Die zweimal 50 Milliarden brauchen wir für die öffentliche Daseinsvorsorge. Und nicht für Eurofighter und atomare Mittelstreckenwaffen in Deutschland.»
Statt für Rüstung sollten Milliarden in die sozialen Bereiche investiert werden, wo sie seit Jahren fehlen, so die Gewerkschafterin. Auch die Schulen seien «massiv sanierungsbedürftig», betonte der Pädagogik-Student Urs Kroll von der Gewerkschaft GEW. Er wandte sich auch gegen den politisch verordneten Trend, die Bundeswehr in die Schulen zu holen, um schon die Jüngsten «kriegstüchtig» zu machen. Er wolle als angehender Lehrer nicht mitmachen, wenn «die Schüler von der Schulbank in einen Beruf gedrängt werden sollen, in dem sie töten und sterben sollen».
Die Gesprächsrunde der Gewerkschafter (Foto: Tilo Gräser)
«Jeder Euro, der für die Rüstung ausgegeben wird, steht nicht mehr zur Verfügung für Wohnungsbau», erklärte Anja Scholtze von der IG BAU. Sie machte auf die massiven Probleme beim sozialen Wohnungsbau in Deutschland aufmerksam.
«Jede Patrone, die jetzt irgendwo hergestellt wird, wird Menschen töten, wird unsere Äcker verseuchen und wird Gebäude zerstören. Und ich bin mal Bauingenieur geworden, weil ich gerne gebaut habe und nicht, um einen Krieg zu erleben wie meine 103-jährige Schwiegermutter.»
Statt für Rüstung müssten in den nächsten fünf Jahren 50 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau ausgegeben werden, um mehr bezahlbaren Wohnraum für alle zu schaffen, so Scholtze. Doch stattdessen werde ein «Kaputtsparprogramm» in allen sozialen Bereichen durchgesetzt, kritisierte ver.di-Vertreter Gotthard Krupp. Er redete auf der kleinen Bühne am Neptunbrunnen Berlins Klartext:
«Es geht nicht nur um Hochrüstung, sondern diese Regierung hat entschieden, einen Krieg vorzubereiten. Und sie sagen auch, wer der Gegner ist: Russland. Ein solcher Krieg ist unvereinbar mit Demokratie und Sozialstaat. Deswegen: Nein zum Krieg! Nein zur Kriegsvorbereitung!»
Der Sozialstaat könne nicht verteidigt werden, wenn die Gewerkschaften nicht auch gegen die Kriegspolitik kämpften, stellte Krupp klar. Darüber müsse in den Organisationen aufgeklärt und diskutiert werden. Das taten an dem Tag eine ganze Reihe von Gewerkschaftsbasisgruppen mit ihren Ständen.
Kritik am israelischen Völkermord und an Angriffen auf die Meinungsfreiheit
Eines der Themen der Veranstaltung war auch der israelische Vernichtungsfeldzug gegen die Palästinenser, der trotz zunehmender internationaler Proteste weiter fortgesetzt wird. Ina von der Organisation «Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost» sagte dazu in ihrem Redebeitrag:
«Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Mord an einem palästinensischen Kind und an einem jüdischen Kind.»
Die Mutter zweier Kinder berichtete, dass ihre Großmutter die faschistische Blockade von Leningrad im Zweiten Weltkrieg überlebt habe, während ihre Familie in der ukrainischen Sowjetrepublik von den deutschen Faschisten ausgelöscht worden sei. Ihre Großmutter habe sie «bedingungslose Liebe und menschliche Würde» gelehrt. Umso mehr sei sie entsetzt über das, was im Gaza-Streifen geschieht:
«Ich hätte mir niemals vorstellen können, in meinem Leben die systematische Tötung und Verhungerung ganzer Familien mitzuerleben, die Zerstörung eines Volkes. Ist das wirklich die Welt, in der wir leben wollen? Wir müssen diesen Lauf der Geschichte beenden.»
Klare Forderung in Berlin (Foto Éva Péli)
Eine Gesprächsrunde beschäftigte sich mit den Angriffen der Regierenden und der EU auf die Meinungs- und Informationsfreiheit, indem Meinungsäußerungen kriminalisiert und mit polizeilicher Gewalt bekämpft sowie gar mit Sanktionen bedacht werden. Letzteres betrifft die deutschen Journalisten Thomas Röper und Alina Lipp, die aus Russland berichten, sowie Hüseyin Doğru, dessen normales Leben durch EU-Sanktionen unmöglich gemacht wurde.
Es gehe dabei darum, dass Einzelne bestraft würden, um alle anderen zu «erziehen», erklärte dazu der Journalist Andreas Peter, Redakteur beim Sender Kontrafunk. Es werde gegen Menschen vorgegangen, die nichts weiter getan haben, als sich regierungskritisch zu äußern. Peter kritisierte ebenso, dass das Vorgehen der EU nicht auf Fakten basiere und von der Bundesregierung noch unterstützt werde.
Von links: Laura von Wimmersperg, Hans Bauer, Andreas Peter und der Autor dieses Berichts (Foto: Éva Péli)
Es gehe nicht nur um die Meinungsfreiheit, sondern auch um die Freiheit der Presse, sagte der Jurist Hans Bauer in der Runde. An der hatte ich auch selbst teilgenommen und klargestellt, dass die Angriffe von EU, Bundesregierung und Polizei auf missliebige Aussagen verfassungswidrig seien, weil sie Artikel 5 des bundesdeutschen Grundgesetzes widersprechen. Bauer bestätigte das und warnte vor der Entwicklung, dass die regierende Politik zunehmend gegen regierungskritische Aussagen vorgehe.
Botschaft aus Russland
Moderatorin Laura von Wimmersperg forderte gemeinsam mit den Teilnehmern der Runde dazu auf, sich gegen die Angriffe auf die Meinungsfreiheit zu wehren. Es müsse auch über die Situation aufgeklärt werden, die vielen Menschen noch gar nicht bekannt und klar sei:
«Wenn wir jetzt nicht begreifen, in welcher Gefahr wir sind, wenn wir das laufen lassen, was sich da entwickelt, dann geraten wir in eine Situation, die keiner von uns will.»
Vor den Folgen von Kriegshetze und Russophobie warnte gegen Ende der Veranstaltung in Berlins Mitte der Songpoet und «Friedensberichterstatter» Tino Eisbrenner. Schon zuvor waren Musiker und Schauspieler mit Liedern und Gedichten aufgetreten. Eisbrenner sang nicht nur seine Friedenslieder und das russische Lied von den «Журавли» (Schurawli – Deutsch: Kraniche), das an die gefallenen Soldaten von vor mehr als 80 Jahren erinnert.
«Nie wieder Krieg – Frieden mit Russland» forderten Teilnehmer, als Eisbrenner das Lied von den «Журавли» sang (Foto: Éva Péli)
Er kritisierte ebenso deutlich die deutsche Politik, die sich heute anmaße, «den Russen auf besondere Weise zu erklären, wie man Frieden macht». Und fügte hinzu: «Dabei wissen wir es selber nicht.» In Deutschland werde nicht an die 27 Millionen Toten der Sowjetunion erinnert, die «uns von unserem eigenen Krieg und die Welt von unserem Krieg befreien musste».
Eisbrenner bedankte sich bei den Menschen, die zum Neptunbrunnen gekommen waren und «Gesicht zeigten». Er berichtete von seinen Reisen in den letzten Jahren nach Russland, wo ihm immer wieder ein Auftrag mitgegeben worden sei:
«Sag deinen Leuten in Deutschland, wir Völker müssen zusammenhalten, wir haben kein Problem mit den Deutschen.»
Der Songpoet forderte dazu auf, die Kultur als Brücke zwischen den Völkern nicht zerstören zu lassen. Gemeinsam mit den Teilnehmern des Aktionstages sang er zum Abschluß das Lied von der «Kleinen weißen Friedenstaube».