Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat unter dem Aktenzeichen WD 3 - 3000 - 183/20 ein Gutachten ausgearbeitet. Es umfasst acht Seiten und birgt politischen Sprengstoff. Denn die mit dem Titel «Verschiebung der Bundestagswahl — Verfassungsrechtliche Aspekte und Konsequenzen» versehene Schrift, die Corona Transition vorliegt, zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Bundestagswahl 2021 verschoben werden könnte, mit Covid-19 als Begründung.
Ein Lockdown liesse sich demzufolge durchaus als Rechtfertigung für eine Verschiebung der Bundestagswahl nutzen — auch wenn das normalerweise nur im Verteidigungsfall möglich ist.
Wir bringen die wichtigsten Auszüge:
«Die Ausarbeitung befasst sich mit der Verschiebung der Bundestagswahl. Insofern wird die verfassungsrechtliche Möglichkeit erläutert, dass die Wahl verschoben wird, weil eine Durchführung faktisch nicht möglich ist. Zudem wird auf die Folgen einer Verschiebung eingegangen, insbesondere den Fortbestand des Deutschen Bundestages und die Möglichkeit der Gesetzgebung durch diesen.
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Eine Verlängerung über den Rahmen des Art. 39 GG hinaus sieht das GG nur im Verteidigungsfall nach Art. 115a GG vor. Nach Art. 115h GG endet eine während des Verteidigungsfalles ablaufende Wahlperiode des Bundestages sechs Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalles.
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Bezüglich der Verlegung des Wahltermins muss unterschieden werden, ob dies innerhalb des von Art. 39 Abs. 1 S. 3 GG vorgesehenen Zeitkorridors von sechsundvierzig bis spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode stattfindet, oder der Termin auf einen ausserhalb dieses Korridors befindlichen Zeitpunkt verlegt werden soll.
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Als sachgerechter Grund für die Verlegung eines Wahltermins ist die Sicherung der Wahlbeteiligung anerkannt. Die Erwartung der Wahlbeteiligung darf insofern an der allgemeinen Lebenserfahrung und an bestehenden besonderen Umständen ausgerichtet werden. Insofern könnte auch eine bestehende epidemische Lage in die Abwägung einbezogen werden. Die derzeitige Corona-Pandemie führt dazu, dass aus Gründen des Infektionsschutzes von Ansammlungen und Veranstaltungen mit größeren Personenzahlen, insbesondere in geschlossenen Räumen, abgeraten wird. Zwischenzeitlich waren diese durch die Corona-Eindämmungsverordnungen der Länder (nahezu) vollständig verboten. Wahlvorgänge waren jedoch nicht von landerechtlichen Corona-Eindämmungsverordnungen geregelten Versammlungsverboten umfasst, da diese keine Versammlungen, sondern davon unabhängige Zusammenkünfte im Rahmen eines demokratischen Legitimationsprozesses darstellen.
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Derzeit ist nicht absehbar, ob die Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus bei einer Erhöhung der Infektionszahlen wieder verschärft werden müssen und dafür physische Kontakte von Menschen wieder deutlich reduziert werden müsste. Insofern kann eine Lage eintreten, in der sowohl die Vorbereitung der Wahl in den Parteien und Wahlvereinigungen – zum Beispiel durch Versammlungen zur Kandidatenaufstellung – , als auch die Durchführung der Wahl nach dem geregelten Ablauf aufgrund der erhöhten Ansteckungsgefahr wesentlich erschwert wird.
Erster Kommentar der Redaktion: Das Papier erschien bereits im Juli 2020. Der in Deutschland seit dem 2. November geltende neuerliche Lockdown beinhaltet genau die vom Wissenschaftlichen Dienst skizzierte Lage, ohne die eine Verschiebung der Bundestagswahl nicht möglich wäre.
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Auch eine unklare Infektionsgefahr kann dazu führen, dass die Wahlbeteiligung erheblich sinkt. Bei Ansammlung in Zeiten mit einer hohen Infektionsmöglichkeit drohen Gefahren für Leib und Leben bzw. eine Überlastung des Gesundheitswesens in Folge vermehrter Infektionen. Die bei der Wahl entstehenden Ansammlungen, könnten je nach der konkreten Infektionslage diese Gefahren begründen. Mithin könnte darin ein entsprechend gewichtiger Sachgrund für eine Verschiebung der Wahl liegen.
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Auch wenn der Bundestag wegen einer erst später erfolgenden Wahl über den Zeitraum von 48 Monaten und 30 Tagen hinaus besteht, erfolgt rechtlich keine Beschränkung der Befugnisse, etwa zum Erlass von Gesetzen oder der Besetzung von Gremien.»
Zweiter Kommentar der Redaktion: Die von der Bundesregierung als Begründung für den neuen Lockdown gelieferten Argumente sind nahezu deckungsgleich mit den vom Wissenschaftlichen Dienst geforderten Punkten, die eine Verschiebung der Bundestagswahl auch ohne Verteidigungsfall juristisch rechtfertigen könnten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich auf diese Weise – bewusst oder unbewusst – den Machterhalt durch juristische Winkelzüge auch nach 2021 gesichert, sofern sie die Wahlen verschieben lassen möchte.