«Die deutsche Wirtschaft ist seit mehr als einem Jahr ohne billiges russisches Gas, auch dank Joe Biden und seiner Entscheidung Anfang letzten Jahres, die Nord Stream-Pipelines zu zerstören.“ Das schreibt der investigative Journalist Seymour Hersh aus den USA in seinem neuesten, am Freitag veröffentlichten Text.
Er bringt die gesprengte Gas-Leitung und die Folgen in Verbindung mit dem Aufschwung der Alternative für Deutschland (AfD). Das sieht er als Folge des wirtschaftlichen Abschwungs und der eingesetzten Deindustrialisierung Deutschlands. Dazu könnte beigetragen haben, dass die deutsche Industrie vom billigen russischen Gas abgeschnitten wurde, auch durch die Sprengung von Nord Stream. Hersh zitiert dazu den Historiker Max Paul Friedman, aus dessen Sicht die gestiegenen Energiepreise zentrale Bedeutung haben.
Aber zu den deutschen Wirtschaftsproblemen würden ebenso die sklerotische Bürokratie, der Niedergang des chinesischen Marktes und der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften beitragen. Der AfD-Aufschwung werde durch die allgemeine islam- und einwanderungsfeindliche Stimmung in westlichen Ländern beflügelt.
Der Historiker sehe die Sprengung der Pipeline «als einen Katalysator oder vielleicht als den Tropfen (…), der das Fass zum Überlaufen brachte». Das sei nicht der einzige kritische Faktor, der zu Deutschlands Problemen beitrage.
Hersh zitiert ausserdem die Wirtschaftsjournalistin Sarah Miller. Sie sehe Deutschland in Gefahr, «einen grossen Teil seiner industriellen Basis zu verlieren, die in den letzten Jahrzehnten der Schlüssel zu seiner industriellen Stärke und seinem politischen Einfluss innerhalb der EU war».
Die legendären deutschen Industrien, energieintensiv und für die Deutschen auch ein emotionaler Faktor, seien geschwächt. «Diese Industrien sind wichtig für das Sicherheitsgefühl und das Selbstvertrauen des Landes, und die politischen Folgen könnten schwerwiegend sein», wird Miller zitiert.
Sie schätzt ein, dass sich die Deindustrialisierung, die Finanzialisierung und die wirtschaftliche Aushöhlung, welche die USA in den letzten Jahrzehnten erlebte, nun in anderen westlichen Staaten wiederholt. Die USA seien «ein abschreckendes Beispiel».
Verschwiegene Rolle der USA
Zugleich sind die USA «der umstrittenste Faktor in Deutschlands jüngsten schweren Zeiten, so umstritten, dass seine Rolle selten erwähnt wird», schreibt Hersh dazu. Er bezieht das insbesondere auf «Bidens Entscheidung im Herbst 2022, ein von der CIA geführtes Team, das verdeckt in Norwegen arbeitet, mit den besten norwegischen Spezialkräften, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein amerikanischer Aktivposten sind, anzuweisen, die Nord Stream-Pipelines in der Ostsee zu sprengen».
Er wiederholt seine Erkenntnisse über die Vorbereitung und den Ablauf der Aktion sowie die Zusammenarbeit von US-amerikanischen und norwegischen Kräften, die als Botschaft an Russland gedacht gewesen sei. Den ursprünglich für Frühjahr 2022 geplanten Zeitpunkt der Sprengung habe US-Präsident Joseph Biden aber verschoben. Der entsprechende Befehl sei erst im September gekommen.
Dass statt vier nur drei Pipelines gesprengt wurden, habe nur mit der Sicherheit der Taucher zu tun gehabt, die die Sprengladungen anbrachten, so Hersh. Er schreibt weiter:
«Bidens Timing schien auf Bundeskanzler Scholz abzuzielen.»
In der CIA sei befürchtet worden, dass Scholz 2022 angesichts des nahenden Winters doch wieder auf russisches Gas zurückgegriffen hätte, um die Deutschen mit Wärme und die Industrie mit Energie zu versorgen. Für alle US-Präsidenten seit John F. Kennedy sei russisches Gas als strategischer Vorteil und damit als Gefahr gesehen worden.
Der investigative Journalist stellt fest, dass in den zehn Monaten seit seinem ersten Bericht über die Sabotage der Nord Stream-Pipelines die deutsche Politik und die deutschen Medien «die Art und Weise und die Gründe für die Zerstörung der Pipelines entweder ignoriert oder mit alternativen Darstellungen versehen» haben.
«Die Vorstellung, dass ein amtierender US-Präsident absichtlich eine lebenswichtige Energiequelle eines engen Verbündeten zerstören würde, war, wie Freud sagen würde, ein Tabu.»
Hersh macht darauf aufmerksam, dass kürzlich das deutsche verstaatlichte Energie-Unternehmen Sefe – früher Gazprom Germany – einen Milliarden-Vertrag mit dem norwegischen Gas-Unternehmen Equinor abschloss. Dadurch werde die deutsche Industrie zehn Jahre lang mit einem Drittel ihres Erdgas-Bedarfes versorgt.
Doch bei den Meldungen darüber, wonach Norwegen den früheren Langzeitlieferanten Russland ersetzt, seien die zerstörten Nord Stream-Pipelines nicht erwähnt worden. Dafür habe ein US-Regierungsbeamter ihm gegenüber den deutsch-norwegischen Vertrag als «einen erstaunlichen Glücksfall für Scholz bezeichnet, «gerade als seine Basis vor einem weiteren gasfreien Winter stand».
«Aus heiterem Himmel fanden die Norweger einen Abnehmer für fast genau den gleichen Prozentsatz an Gas, der durch die Schliessung der Nord Stream verloren ging.»
Zum gleichen Zeitpunkt habe Russland die Gasquelle geschlossen, aus der die Nord Stream-Pipelines gefüllt wurden. Laut Hersh erklärte der US-Beamte, dass Kanzler Scholz gewusst habe, dass er auf russisches Gas verzichten muss. Der Zeitpunkt war demnach bereits vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine: Als Scholz und Biden am 7. Februar 2022 im Weissen Haus bei einer Pressekonferenz nebeneinanderstanden und Biden ankündigte, dass es im Falle eines Einmarsches Russlands in die Ukraine kein Nord Stream 2 geben würde.
«Was die Norweger betrifft, war der beste Weg zur Ausweitung des Marktanteils schon immer die Ausschaltung der Konkurrenz», wird der US-Regierungsmitarbeiter zitiert. Er habe hinzugefügt: «Ist die Geschichte nicht grossartig?»