Der US-amerikanische Historiker David Horowitz hatte 1965 mit seinem Buch «From Yalta to Vietnam. American Foreign Policy in the Cold War» (Deutsch 1969: «Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam») die erste mit umfangreichem Quellenmaterial fundierte Geschichte der US-Außenpolitik vorgelegt. Damit belegte er, dass der «Kalte Krieg» keine Reaktion auf das angebliche sowjetische Expansionsstreben nach dem zweiten Weltkrieg war, sondern der Rechtfertigungsmythos einer rigorosen US-Machtpolitik vom Korea bis Vietnam. In dem Buch geht er auch auf die Hintergründe der US-Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki vor 80 Jahren ein. Aus gegebenem Anlass veröffentlichen wir den entsprechenden Auszug aus dem noch heute aktuellen Buch.
Am 9. August, dem Tag, als die zweite Atombombe auf japanisches Gebiet abgeworfen wurde, erklärte Präsident Truman, daß diese Bomben eingesetzt worden seien, «um den Krieg abzukürzen, um das Leben Tausender und aber Tausender von jungen Amerikanern zu retten». Die Rechtfertigung für seine Behauptung schien in der Tatsache zu liegen, daß Japan nicht kapitulieren wollte. 70.000 Amerikaner hatten fallen müssen, um im Frühjahr zuvor Iwo Jima und Okinawa einnehmen zu können. Jeder Versuch einer Invasion der japanischen Inseln würde Hunderttausenden von Amerikanern das Leben kosten. Doch sollte laut Plan keine Landinvasion dieser Inseln vor dem 1. November 1945 stattfinden! Die USA hatten darüber hinaus Kenntnis davon erhalten, daß die japanische Regierung bereits einen Monat vor Abwurf der Bombe über ihren Botschafter in Moskau um Frieden ersucht hatte. Man vergleiche dazu in den Forrestal Diaries die Eintragung vom 13. Juli 1945:
«Der erste wirkliche Beweis für den Wunsch der Japaner nach einer Beendigung des Krieges wurde heute durch eine abgefangene Nachricht Togos an Sato, den japanischen Botschafter in Moskau, erbracht. In der Mitteilung wurde Sato angewiesen, Molotow aufzusuchen, und zwar möglichst noch vor seiner Abreise zur Konferenz der ‹Großen Drei› ..., um ihm den lebhaften Wunsch des Kaisers nach einer Beendigung des Krieges zu unterbreiten ... Togo sagte weiter, daß die vorbehaltlosen Kapitulationsbedingungen der Alliierten wohl den einzigen Weg zur Beendigung darstellten ...»
Nach dem Lagebericht Nr. 4 der strategischen US-Bomberflotte «hätte Japan bestimmt noch vor dem 31. 12. 1945 kapituliert, auch wenn die beiden Atombomben nicht abgeworfen worden wären, Rußland nicht in den Krieg eingetreten und die Invasion nicht geplant worden wäre». Schon vorher, am 28. Mai, hatte Harry Hopkins an Truman telegrafiert:
«Bis zum 8. August wird die sowjetische Armee ihre Stellungen in der Mandschurei ordnungsgemäß bezogen haben [d. h. um in das Kriegsgeschehen einzugreifen] ... Japan ist verloren und die Japaner wissen es. Von bestimmten Kreisen in Japan werden Friedensfühler ausgestreckt, und wir sollten uns daher unsere gemeinsame Haltung [d. h. die der Sowjets und Amerikaner] gut überlegen und im Hinblick auf die Kapitulation der Japaner ebenfalls gemeinsam handeln. Stalin drückte seine Befürchtung aus, die Japaner würden versuchen, einen Keil zwischen die Alliierten zu treiben.»
Hopkins’ Rat, in der Frage der japanischen Kapitulation das Vorgehen der einzelnen Regierungen aufeinander abzustimmen, wie es unter Verbündeten üblich gewesen wäre, blieb unbeachtet. Stalins Befürchtung, die Alliierten würden sich entzweien, erwies sich als richtig, doch war der Grund dafür nicht in einer japanischen Initiative zu suchen.
Hopkins’ Telegramm zufolge hatte Stalin einen Vorschlag für die Behandlung der Japaner parat. Seiner Meinung nach war es notwendig, die Einwirkungsmöglichkeiten infolge der bedingungslosen Kapitulation konsequent wahrzunehmen, d. h. den Kaiser und die Kriegsherren auszuschalten, damit sie keinen Revanchekrieg beginnen konnten. Er glaubte jedoch nicht, daß die Japaner sich einer bedingungslosen Kapitulation unterwerfen würden. Wenn daher die Japaner eine Kapitulation mit Einschränkungen anboten, sollten die Alliierten seiner Meinung nach auf diese Bedingungen eingehen und dann ihren Willen auf dem Weg über die Besatzungsstreitkräfte durchsetzen. Doch Truman war an Stalins Vorschlag nicht interessiert.
Am 26. Juli, genau dreizehn Tage vor dem festgesetzten Kriegseintritt der Russen und drei Monate bevor überhaupt eine Invasion geplant war, die das Leben amerikanischer Soldaten hätte aufs Spiel setzen können, stellten Großbritannien, China und die USA den Japanern ein Ultimatum, in dem sie sie aufforderten, bedingungslos zu kapitulieren; andernfalls hätten sie die «sofortige und totale Vernichtung» zu gewärtigen. Das Ultimatum enthielt nicht die geringste Andeutung, daß gegen die Japaner eine neue Waffe von bisher unvorstellbarer Wirkung eingesetzt werden sollte.
«Die Erklärung wurde sofort zur Veröffentlichung freigegeben», schreibt Byrnes, «und eine Kopie wurde durch Spezialkurier Mr. Molotow zugeleitet». Molotow rief später am Abend an und bat darum, die Erklärung «für zwei oder drei Tage zurückzuhalten». Als ihm mitgeteilt wurde, sie sei bereits veröffentlicht worden, schien er beunruhigt. Am nächsten Tag erklärte Byrnes Molotow, daß die Sowjetunion von dem Ultimatum an die Japaner deshalb nicht unterrichtet worden sei, «weil wir die Lage der Sowjetunion nicht komplizieren wollten, indem wir ihr eine Erklärung zuleiteten, die ein Land betraf, mit dem sie sich noch nicht im Kriegszustand befand».
(Die Tatsache, daß die USA mit den Russen in Jalta ein Abkommen geschlossen hatten, das den Kriegseintritt der Sowjetunion vorsah, und ferner die Tatsache, daß die Russen sich binnen dreizehn Tagen dazu bereit erklärt hatten, spielte dabei offenbar keine Rolle.)
Molotow antwortete «schlicht», daß die «Alliierten ihn hätten konsultieren sollen». Stalin hatte übrigens Truman von den japanischen Bemühungen unterrichtet, die Russen in ihrem Auftrag zu einer diplomatischen Intervention zu veranlassen und sie für die Rolle des Friedensvermittlers zu gewinnen. Am 29. Juli rief Molotow wieder an und sagte, daß Stalin ihn beauftragt habe (mit Truman und Byrnes) «die unmittelbare Ursache des Kriegseintritts der Sowjetunion» zu erörtern. «Dies Ersuchen«, schrieb Byrnes später, «stellte für uns ein Problem dar». «Die Sowjetunion», erklärte Byrnes, «hatte mit den Japanern einen Nichtangriffspakt ... Wir waren nicht der Meinung, daß die Regierung der USA in die Lage gebracht werden sollte, von einer anderen Regierung ohne gute und ausreichende Gründe den Bruch ihres Abkommens zu verlangen ... Der Präsident war beunruhigt».
Diese pedantische Besorgnis um Feinheiten der Auslegung im internationalen Recht scheint kaum glaubhaft angesichts der Tatsache, daß die US-Regierung gewillt war, 400.000 Angehörige der Zivilbevölkerung von Hiroshima und Nagasaki durch Abwurf von Atombomben zu einem Zeitpunkt auszurotten, als die japanische Regierung Friedensfühler ausstreckte. Eine deutlichere Erklärung für die Bestürzung Trumans und Byrnes’ lieferte Byrnes selber, als er freimütig schrieb: «Was mich betrifft, so muß ich offen zugeben, daß ich im Hinblick auf das, was wir über sowjetische Maßnahmen in Ostdeutschland und die Verletzung des Jalta-Abkommens in Polen, Rumänien und Bulgarien erfuhren, zufrieden gewesen wäre, wenn die Russen sich entschlossen hätten, nicht in den Krieg einzutreten.»
Dieses Eingeständnis wird durch ein historisches Dokument bestätigt. Am 28. Juli, dem Tag vor Molotows Telefonanruf, notierte Forrestal in seinem Tagebuch eine Unterredung mit Byrnes: «Byrnes sagte, ihm liege sehr viel daran, die japanische Angelegenheit erledigt zu wissen, ehe die Russen sich einmischen, besonders im Hinblick auf Dairen und Port Arthur. Säßen sie erst einmal dort, würde es seiner Meinung nach nicht leicht sein, sie wieder hinauszudrängen ...» In der Retrospektive erscheint diese Äußerung durchaus wie die realistische und vorausschauende Auffassung eines nüchtern denkenden Staatsmannes, der die finsteren Absichten des russischen Imperialismus zu durchkreuzen sucht.
Von nicht geringer Bedeutung ist bei der Abgabe eines solchen Urteils jedoch die Tatsache, daß Rußland das Recht garantiert worden war, in Dairen und Port Arthur präsent zu sein, und zwar auf Grund eines gegenseitigen Abkommens in Jalta. Dairen sollte als Handelshafen unter internationale Kontrolle gestellt werden (wobei den Russen freier Zugang garantiert wurde), während Port Arthur den Russen als Marinestütz-punkt verpachtet werden sollte. In Wirklichkeit entsprach dies nicht einmal einer bescheidenen Wiederherstellung der Rechtsansprüche, die Rußland auf diese Häfen bereits besessen und im Russisch-Japanischen Krieg von 1905 verloren hatte.
Byrnes wollte Rußland aus dem japanischen Kriegsschauplatz also heraushalten, nicht weil die Russen die Verträge von Jalta verletzt hatten, sondern vielmehr, um den Vereinigten Staaten die Möglichkeit zu geben, das Abkommen zu ignorieren oder zumindest zu umgehen.
Zurückschauend dürfte der Wunsch, die Russen aus dem Krieg herauszuhalten, der primäre Grund für den Einsatz von Atom-bomben gewesen sein! Nur so läßt sich die Eile erklären, mit der sie abgeworfen wurden (ohne die Wirkung des russischen Kriegseintritts abzuwarten) sowie das Fehlen eines angemessenen zeitlichen Abstandes oder eines zweiten Ultimatums zwischen beiden Abwürfen. Tatsächlich fiel die zweite Bombe am 9. August, dem Tag, an dem russische Truppen in die Mandschurei einmarschierten. Am 10. August boten die Japaner eine modifizierte, keineswegs bedingungslose Kapitulation an. Nach der Antwort der Alliierten erfolgte die Kapitulation der Japaner am 14. August.
Am 18. August, noch spürbar unter dem Eindruck der Atombombe, erhob Byrnes in aller Öffentlichkeit den Vorwurf, die Wahlen in Bulgarien würden nicht demokratisch durchgeführt. Daraufhin wurden die Wahlen verschoben. Byrnes’ Behauptung war es, die nach Ansicht eines guten Rußlandkenners zu der «tragischen Sackgasse in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen» führte. Die Bedeutung des Byrnesschen Ausfalls liegt darin, daß die Russen, wiewohl sie das Abkommen von Jalta durch Manipulation der Wahlen in Bulgarien entschieden verletzten, dies nach den Klauseln eines Abkommens mit dem Westen bewußt taten, dessen Einhaltung ihnen – politish gesehen – schon teuer zu stehen gekommen war. Es handelte sich um das bereits erwähnte Geheimabkommen über den Balkan, das im Oktober 1944 in Moskau zwischen Churchill und Stalin geschlossen worden war. Nach Churchills eigenem Bericht schlug er eine «90prozentige Mehrheit in Rumänien» für Rußland, die gleiche Mehrheit für Großbritannien in Griechenland und ein Verhältnis von 50 zu 50 für Jugoslawien vor. Dann fügte er die in den fünf Balkanländern beabsichtigte Aufteilung der Machtbereiche hinzu, wobei Ungarn zu 50 und Bulgarien zu 75% von Rußland und zu 25% durch die anderen Mächte kontrolliert werden sollte.
Am 8. März 1945 sandte Churchill an Roosevelt (der das Geheimabkommen mißbilligte) ein Telegramm, daß «Stalin an dieser Vereinbarung absolut festhalte». Was Churchill zum Ausdruck bringen wollte, war, daß Stalin zugestimmt hatte, als die britischen Streitkräfte der griechischen antifaschistischen (aber auch antimonarchistischen und kommunistisch beherrschten) Widerstandsbewegung EAM-ELAS das Rückgrat brachen, um schließlich der reaktionären Monarchie in Griechenland wieder auf den Thron zu helfen. Als Gegenleistung für seine Zusammenarbeit durfte Stalin in den Satellitenländern der Achsenmächte, Rumänien und Bulgarien, die von ihm bevorzugte Regierungsform durchsetzen. In Ungarn dagegen gestattete Stalin im Herbst 1945 freie Wahlen, die er jedoch verlor. In Jugoslawien versuchte Stalin tatsächlich, Tito dazu zu bewegen, König Peter aus dem Exil zurückzuholen und die Monarchie wiederzuerrichten.
Byrnes’ Protest gegen die Abwicklung der Wahlen in Bulgarien konnte also von den Russen lediglich als ein Versuch angesehen werden, sie vor den Augen der Welt eines Bruchs der von ihnen feierlich vor aller Welt eingegangenen Verpflichtungen zu überführen. Die Sowjetunion konnte mit Erklärungen über Griechenland aufwarten, doch aus einer internationalen Debatte mit dem Westen über freie Wahlen mußten sie am Ende als Verlierer hervorgehen. Die tiefere Bedeutung der Byrnesschen Erklärung gab den Russen zu verstehen, daß der Westen an einer Zusammenarbeit mit ihnen nicht mehr interessiert und bereit war, seine Vormachtstellung einzusetzen, um die Sowjet-union an der Schaffung einer Einflußsphäre (entsprechend früheren Abmachungen) im entscheidenden ost- und mitteleuropäischen Raum zu hindern. Am selben Tag, als die zweite Atombombe auf Nagasaki fiel, und während Washington ganz offen seinen eigenen Einflußbereich im Pazifik absteckte, erklärte Präsident Truman, daß die osteuropäischen Länder «nicht Einflußsphären irgendeiner Macht werden sollten». Damit war das Ende der Koalition besiegelt.
Es ist aufschlußreich, sich die Gründe zu überlegen, warum die amerikanische Führung gerade diesen Zeitabschnitt (26. Juli bis 18. August) wählte, um die Koalition zu beenden. Im Sinne von Jalta, das gewöhnlich als Vorwand angeführt wird, fiel in diese Zeit wahrscheinlich der Höhepunkt des russischen guten Willens, zumindest vom Standpunkt des Westens aus. Die Russen hatten sich soeben der mühevollen Aufgabe unterzogen, ihre Truppen aus Deutschland in die Mandschurei zu verlegen, um die «zweite Front» zu eröffnen, die für die Amerikaner in Jalta eine höchst dringende Angelegenheit war. In Polen hatten sie die Zahl der Regierungsmitglieder erweitert, indem sie Mikolajczyk und anderen Polen aus dem Ausland Posten im Kabinett gaben, und der Westen hatte die neue polnische Regierung ordnungsgemäß anerkannt.
Falls also kein Schritt der Russen zu diesem Zeitpunkt einen Bruch rechtfertigte, kann die einzige Erklärung nur sein, daß die USA die Russen für gemeinsame Unternehmungen nicht mehr benötigten. Der entscheidende Faktor, der zwischen dem 23. April (als Marshall und Stimson sich durch die Aussicht auf einen Bruch und durch dessen mögliche Auswirkung auf den japanischen Krieg beunruhigt fühlten) und dem 26. Juli (als das Ultimatum ohne: Konsultation der Russen gestellt wurde) diese Veränderung bewirkte, konnte nur der erste erfolgreiche Atombombenversuch in Alamogordo am Tag vor der Eröffnung der Potsdamer Konferenz gewesen sein. Wie weit dieser Umschwung in der Haltung ging, läßt sich Churchills damaliger Äußerung entnehmen.
«Wir standen vor einem neuen, das Leben der Menschen bestimmenden Faktor», sagte er in bezug auf die Bombe. «Wir besaßen Kräfte, denen man keinen Widerstand entgegensetzen konnte … unsere Zukunftsaussichten hatten sich gewandelt.»
Quelle: David Horowitz «Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam»
Wagenbach Verlag 1983; Seiten 45 - 50