«Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der DDR war von Anfang an auch ein Kampfplatz der Geschichtsschreibung in Ost und West.»
Das schrieb die Publizistin Daniela Dahn in einem Beitrag in der Ausgabe 12/2023 der Zweiwochenschrift Ossietzky.
«Was auf beiden Seiten gern unterschlagen wurde, war der Kontext der Nachkriegsgeschichte, in der es durchaus noch offen war, zu welcher Ordnung sich ein geteiltes oder gar vereintes Deutschland entwickeln würde.»
Der Historiker Jörg Roesler schrieb 2013 zu den geschichtlichen Ereignissen:
«701 Städte und Gemeinden waren seinerzeit Schauplatz der Proteste. Das klingt gut. Auch dass 1,2 Millionen Menschen auf den Straßen demonstrierten. Allerdings waren das nur etwa sechs Prozent der damals 18,2 Millionen DDR-Bewohner. In annähernd 1.000 Betrieben wurde am 17. und 18. Juni gestreikt! Sicher beachtlich, aber in den übrigen 19.000 Industriebetrieben ging offenbar alles seinen gewohnten Gang.»
Am 17. Juni 1953 «haben sich vor allem die Arbeiter als Hauptbetroffene gewehrt gegen das, was damals Sparpolitik genannt wurde und heute Austeritätspolitik heißt», so Roesler 2019 in einem Interview. Er verwies auf einen ähnlichen Vorgang im Jahr 1948 in der damaligen britisch-US-amerikanischen Bi-Zone.
US-Panzer gegen Arbeiter
Im Oktober 1948 kam es in Stuttgart zu einer Protestkundgebung der Gewerkschaften gegen die Politik des Frankfurter Wirtschaftsrates unter Ludwig Erhard, mit zehntausenden Demonstranten. Sie forderten unter anderem, den «Wirtschaftsdiktator» Erhard abzusetzen. Er wurde für unsoziale Bestimmungen in der Währungsreform und eine Verringerung des Realeinkommens verantwortlich gemacht.
Die Antwort der Besatzungsmacht USA bestand aus Tränengas, berittener Polizei und Panzern. Dahn meint dazu:
«Am Abend hatte das Zentrum ein ‹kriegsähnliches Aussehen›, wie die Zeitungen schrieben, Rädelsführer wurden verhaftet und im Raum Stuttgart der Ausnahmezustand verhängt.»
Die Publizistin fragte zu Recht, warum sich anscheinend niemand in der Bundesrepublik daran erinnert. Für den Historiker Siegfried Prokop ist der Vorgang gar das Vorbild für den Einsatz sowjetischer Panzer gegen die Arbeiterproteste in der DDR fünf Jahre später.
«Man muss dabei berücksichtigen, dass zu dieser Zeit der Kriegszustand noch nicht beendet war», erklärte Prokop 2020 in einem Interview.
«Der Kriegszustand wurde in der DDR erst 1954 für beendet erklärt.»
Er machte auch auf den Kontext der Ereignisse aufmerksam:
«In der Regel wird vernachlässigt, dass der 17. Juni ein Kulminationspunkt zweier Konfliktstränge war:
– einer veränderten Deutschlandpolitik der UdSSR von Ende Mai bis Ende Juni 1953, die auf einen Kompromiss mit dem Westen aus war; die Churchill-Rede vom 11. Mai 1953 bildete dazu den Ausgangspunkt!
– der Systemkrise des Ostblocks am Ende der Stalin-Ära, die vor allem für die DDR mit einer Überforderung der Kräfte verbunden war: Reparationszahlung, Kasernierte Volkspolizei KVP (nach Stalin eine Armee in gleicher Stärke wie die deutsche Armee im Westen), Bezirksbildung, LPG-Bildung und ‹Verschärfung des Klassenkampfes›.»
Prokop wie auch Roesler, beide aus der DDR, widersprachen nicht nur der in dem untergegangenen Land üblichen Bezeichnung der Ereignisse als «faschistischem» bzw. «konterrevolutionärem Putsch». Sie wandten sich ebenso gegen das Etikett «Volksaufstand» und auch gegen die Vorstellung einer «verdrängten Revolution», wie sie unter anderem der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk vertritt. Roesler stimmte der Einschätzung des Historikers Dietrich Staritz zu, der frühzeitig von einer «Arbeiterrebellion» gesprochen hatte.
Westberliner Streiks als Vorbild?
Daniela Dahn erinnerte 2023 auch an einen anderen vergessenen Fakt: Damals streikten von April bis Juni 1953 auch die Westberliner Bauarbeiter immer wieder für höhere Löhne. Und sie fragt in Ossietzky:
«Haben die wiederholten Berichte der Berliner Zeitung darüber womöglich die Kollegen in Ostberlin ermutigt?»
Die Arbeiter hätten gegen die Verschlechterung ihrer Lage gekämpft, so Historiker Roesler über die Proteste in der DDR. Diese hätten sich gegen die Normerhöhungen gewandt, welche die SED-Führung zuvor beschlossen hatte. Der Beschluss sei eine Folge der Aufrüstung gewesen, zu der die DDR durch Moskau verpflichtet worden sei. Hinzu kam laut dem Historiker eine Kampagne gegen kleine und mittelständische Unternehmen.
So hatte sich die SED-Führung eigentlich den Aufmarsch der Arbeiter vorgestellt: Historisches Wandbild am «Haus der Ministerien», entstanden 1952 (Foto: Tilo Gräser)
Aus Sicht des Historikers wollten die protestierenden Arbeiter 1953 aber nicht den Sozialismus abschaffen, «im Gegenteil». Er verwies auf Willy Brandt, der 1955 in seiner Schrift «Arbeiter und Nation» geschrieben hatte, dass von den Streikenden keine «restaurative Tendenz» ausgegangen sei. Sie hätten dagegen «unzweideutige Vorbehalte» gegenüber der Politik der Bundesregierung geäußert.
«Das stammt immerhin von einem westdeutschen Politiker, der dicht dran war. Deshalb komme ich zu dem Schluss: Es war eine Arbeiter-Rebellion, aber keine Revolution oder ‹Aufstand gegen das Regime›.»
Historiker Prokop bezeichnete die Ereignisse vor 71 Jahren als eine «offene, gerechte Rebellion enttäuschter und verbitterter Arbeiter, Angestellter, vor allem in Großbetrieben und Großstädten». Der Anteil der Intelligenz sei größer gewesen als lange angenommen, betonte er. Und er verwies, wie andere, auf Aussagen des Historikers Arnulf Baring, der bereits 1965 geschrieben hatte:
«Die Beteiligung an den Großkundgebungen in einigen Städten kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass der 17. Juni kein Aufstand des gesamten Volkes war. Das zeigen die Augenzeugenberichte ganz deutlich.»
Baring schrieb laut seinem Fachkollegen in seinem damaligen Buch über die Ereignisse von 1953:
«Aber man täusche sich nicht: der Aufstand ist nicht durch die sowjetischen Truppen niedergeschlagen worden. Aufs Ganze gesehen war die revolutionäre Welle schon gebrochen, bevor die Russen aufmarschierten. Ihr Eingreifen war kein Wendepunkt, sondern hat nur einen Schlusspunkt gesetzt: die Streik- und Demonstrationsbewegung hatte sich im Laufe des Tages erschöpft, der Elan war versickert, der Aufstand in seinen Anfängen steckengeblieben.»
Das sowjetische Militär hatte am 17. Juni 1953 ab 13 Uhr den Ausnahmezustand in 167 der 217 Kreise der DDR verhängt, nachdem es zu zum Teil schweren gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen war. Das war laut dem Historiker Jochen Černý nicht nur in Berlin, sondern in den mitteldeutschen Industriegebieten und besonders in ehemaligen Arbeiterhochburgen wie Magdeburg, Leipzig, und Halle/Saale der Fall.
Befehle aus Moskau
Nicht nur in der Hauptstadt rollten sowjetische Panzer in die Städte, die laut Wladimir Semjonow, damals sowjetischer Hoher Kommissar in der DDR, schon am Vorabend dorthin beordert worden waren. Der ehemalige sowjetische Diplomat berichtete in seinen 1995 erschienenen Erinnerungen:
«Die Leidenschaften kochten über. Um 11.00 Uhr erhielten wir die Weisung aus Moskau, das Feuer auf die Aufrührer zu eröffnen, militärische Standgerichte einzurichten und zwölf Rädelsführer zu erschießen. Die Mitteilung über die Exekutionen sollten überall in der Stadt ausgehängt werden. Da Sokolowski [sowjetischer Generalstabschef – Anm. TG] und ich aber über außerordentliche Vollmachten verfügten, handelten wir nicht nach dieser Weisung Moskaus und gaben lediglich den Befehl, über die Köpfe der Demonstranten hinwegzuschießen.»
Historiker Baring schrieb 1965:
«Überall in der DDR fuhren die sowjetischen Panzer – soweit sie gegen Demonstranten eingesetzt wurden – nur langsam in die Menge hinein, so dass sich die Menschen in Sicherheit bringen konnten; die Panzer sollten (wie der stellvertretende Ministerpräsident Otto Nuschke in seinem Rias-Interview sagte) nur ‹gleichfalls demonstrieren›. Wo geschossen wurde, zielten die Soldaten in fast allen mir bekannten Fällen in die Luft.»
Teil einer Foto-Ausstellung 2023 an historischem Ort, vor dem ehemaligen Haus der Ministerien, im Zentrum von Berlin (Ost) am heutigen «Platz des Volksaufstandes» (Foto: Tilo Gräser)
Die Publizistin Dahn stellte 70 Jahre nach den Ereignissen anhand von Recherchen fest: «Sicher, allein die Präsenz der Panzer war ein einschüchterndes Symbol von Gewalt.» Das sei stark genug gewesen, um den Aufstand zu unterdrücken.
«Fakt ist: Die sowjetischen Panzer hatten strengen Befehl, nicht zu schießen. Daran haben sie sich auch gehalten.»
Das sei selbst den Demonstranten schnell aufgefallen. Während des gesamten Aufstandes sei kein einziger Mensch durch die Gewalt eines Panzers ums Leben gekommen, betont Dahn, die sich auf Dokumente in der Stasi-Unterlagenbehörde berief.
Gewalt und Tote
Dennoch gab es den Berichten zufolge Gewalt und neben zahlreichen Verhaftungen auch Todesopfer, einschließlich einiger standrechtlich Verurteilter und Erschossener. Historiker Prokop zitierte im Interview aus dem einst streng geheimen sowjetischen Bericht über die Zeit vom 17. bis 20. Juni 1953, worin die Rede von 430.513 Streikteilnehmern und von 336.376 Demonstranten in der DDR gewesen sei.
«Diesem Bericht zufolge waren 29 Tote plus elf ermordete Parteifunktionäre sowie sechs zum Tode durch Erschießen Verurteilte, wovon vier Urteile vollstreckt worden seien, als Opfer zu beklagen. Verwundet wurden danach 350 Demonstranten und 83 Parteifunktionäre und Polizisten. 6521 Personen wurden den Angaben zufolge festgenommen und inhaftiert.»
Heute gilt die Zahl von 55 Todesopfern als belegt, wobei über die genauen Umstände «erstaunlich wenig bekannt», schrieb Dahn.
«Immerhin sind über 250 öffentliche Gebäude erstürmt worden, darunter Dienststellen der Polizei, der Staatssicherheit und der SED. Aus zwölf Gefängnissen wurden 1400 Häftlinge befreit. Diese Aktionen waren oft von Demütigungen und gewaltsamen, bewaffneten Prügeleien von beiden Seiten begleitet.»
Die hausgemachte und tiefgehende Gesellschaftskrise der DDR (Prokop), die in die Juni-Ereignisse 1953 führte, war zu großen Teilen durch die Forderungen der sowjetischen Besatzungsmacht verursacht worden. Ohne die lief im Guten wie im Schlechten in der DDR fast nichts.
Der Handlungsspielraum der DDR-Verantwortlichen blieb in den frühen 1950er Jahren «sehr begrenzt», so der frühere Mitarbeiter von SED-Chef Ulbricht, Herbert Graf, 2008 in seinen Erinnerungen. Der sowjetische Diplomat Julij Kwizinskij, seit 1959 in der DDR tätig, sprach in seinen Erinnerungen von dem «Siegersyndrom» auf sowjetischer Seite. Es habe die Vorstellung gegeben, «dass man sich in der DDR vieles erlauben konnte, was in anderen Ländern Osteuropas niemals geduldet worden wäre».
Ursachen im Kalten Krieg
Die DDR habe keine Alternative gehabt, so der Historiker Roesler:
«Die einzige Alternative wäre gewesen, man hätte versucht, schnell Bestandteil Westdeutschlands zu werden. Aber hier waren die sowjetischen Truppen.»
Auf die Streiks und Demonstrationen reagierte die SED laut Roesler mit dem Ende der Sparpolitik und der Normenpolitik. Zu den Folgen habe aber auch das massive Vorgehen der in ihrer Macht gesicherten SED-Führung nicht nur gegen Streikende, oftmals Gewerkschafter, sondern auch gegen interne Kritiker gehört. Das beschrieb Stefan Heym in seinem Roman «Fünf Tage im Juni».
Natürlich kann bei der Frage nach den Ursachen nicht weggelassen werden, dass längst der Kalte Krieg als Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West tobte. Die westliche Politik gegen das sozialistische Lager, samt «Roll back» und «Containment» sowie Sanktionen, hatte Folgen auch für die Menschen in der DDR. In der Bundesrepublik bereitete ein staatlich finanzierter «Forschungsbeirat» den «Tag X» zur Übernahme der DDR vor.
Der reichweitenstarke US-Sender Rias wurde offen und indirekt benutzt, um die Stimmung in der DDR zu beeinflussen. «Durchgängig waren alle privaten, parteigebundenen und amtlichen antikommunistischen Organisationen in irgendeiner Weise am Aufstand beteiligt», schrieb der Historiker Bernd Stöver 2002 nach Studien in US-Archiven. Das alles aber wäre wirkungslos gewesen, wenn es nicht die auslösenden hausgemachten Probleme gegeben hätte, so der Historiker Roesler dazu.