Wehrtechnik, Militär und Rüstungsfragen sind in der Schweiz nach dem Ende des Kalten Krieges wenig diskutiert worden. Das änderte sich mit dem Krieg in der Ukraine, mit der Diskussion um die Neutralität und mit der (Auf)rüstungspolitik in Europa.
Unter dem Stichwort Interoperabilität will der Bundesrat, die Schweizer Landesregierung, das Schweizer Militär NATO-kompatibel machen. Dazu gehören Beschaffungen im Rahmen der Luftabwehrinitiative Sky Shield oder das Kampfflugzeug F35. Mit dieser Politik, aber auch mit der Übernahme der Sanktionen gegen Russland lehnt sich der Bundesrat immer näher an die NATO an, so nahe, dass das Land in Teilen der Welt kaum mehr als neutral angesehen wird.
Auf der Plattform Inside Paradeplatz ist in den letzten Wochen eine vierteilige Serie erschienen, die unter dem Titel «Westliche Wehrtechnik» steht. Der Autor ist nicht bekannt, aber es muss sich um eine sehr kompetente, unabhängig denkende und mit den Schweizer Verhältnissen gut vertraute Person handeln. Wir fassen nachstehend Beiträge in eigenen Worten zusammen. Es lassen sich daraus wichtige Schlussfolgerungen nicht nur für die Schweizer Rüstungspolitik, sondern auch für die Schweizer Außen- und Neutralitätspolitik ziehen (siehe hier, hier, hier und hier).
1. Ein neues Zeitalter der Kriegsführung – und die Schweiz steht daneben
Der Ukrainekrieg ist keine Fußnote, sondern ein strategisches Warnsignal. Er zeigt, wie weit die Realität moderner Kriegsführung von westlichen Rüstungs- und Einsatzdoktrinen entfernt ist. Statt kurzer High-Tech-Offensiven beobachten wir einen konventionellen Abnutzungskrieg mit industriellem Charakter.
Und genau hier liegt das Problem: Die westliche Rüstungsindustrie ist auf asymmetrische Einsätze getrimmt – nicht auf langwierige Konflikte gegen Gegner auf Augenhöhe. Die Schweiz, als neutrales Land ohne Bündniszwang, steht vor der Frage: Ist es sinnvoll, sich an diesem Modell zu orientieren?
2. Teure Technik, geringer Nutzen: Warum die Schweiz umdenken muss
Die westliche Militärtechnik ist ineffizient. Systeme wie der US-Kampfjet F-35 sind nicht nur extrem teuer in Anschaffung und Unterhalt – ihr tatsächlicher Nutzen ist in modernen Kriegen mit starker Luftabwehr fraglich. Stand-off-Kampfflugzeug-Angriffe mit Lenkwaffen – also aus sicherer Entfernung abgefeuert – sind zwar möglich, aber nur auf riesigen Distanzen und zu enormen Kosten. Für die Schweiz, ein kleinstaatliches und topografisch anspruchsvolles Land, sind solche Konzepte realitätsfern.
Auch andere Systeme – wie Luftabwehrkomplexe à la Patriot oder übertechnisierte Drohnen – haben oft ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis. Gleichzeitig produziert der geopolitische Gegenspieler Russland Waffen, die zwar technisch einfacher, aber günstiger, robuster und massenhaft einsetzbar sind. China folgt demselben Prinzip.
Die Schweiz täte gut daran, sich davon inspirieren zu lassen – nicht ideologisch, sondern analytisch. Militärische Systeme müssen für den Verteidigungsfall funktionieren, nicht für den Showroom.
3. Neutralität verpflichtet zur Eigenständigkeit, nicht zur Nachahmung
Neutralität bedeutet nicht, sich aus allem herauszuhalten – sondern selbstbestimmt und glaubwürdig verteidigungsfähig zu bleiben. Das erfordert eine andere Herangehensweise als der NATO-Fokus auf Interoperabilität und Bündnispolitik. Die Schweiz darf keine Armee planen, die nur im Verbund mit anderen funktioniert.
Stattdessen braucht sie:
- Robuste, einfache, skalierbare Ausrüstung
- Autarke Produktion oder zumindest instandhaltungsfähige Systeme
- Unabhängige Versorgungsketten
- Eine wehrfähige Bevölkerung – personell wie psychologisch
4. Die Lehre aus der Ukraine: Der Mensch zählt – nicht nur das Material
Die Ukraine hat mit enormem Aufwand ihre Verteidigungskraft bewahrt, doch ihr gehen zunehmend die Soldaten aus. Der Westen kann Waffen liefern, aber keine einsatzfähigen Menschen ersetzen. Die Mobilisierungskraft eines Landes ist endlich – sowohl was die Quantität als auch die Qualität betrifft.
Militärische Fitness ist nicht selbstverständlich, auch nicht in der Schweiz. Eine echte Gesamtverteidigung setzt deshalb nicht nur auf Material, sondern auch auf gesellschaftliche Akzeptanz der Außenpolitik und der Verteidigungspolitik sowie auf Motivation, Ausbildung und Dezentralisierung.
5. Drohnen und digitale Kriegsführung: Die Zukunft ist einfach – und günstig
Ein weiterer Schlüsselaspekt ist die Entwicklung im Drohnenkrieg. Die Erkenntnisse aus der Ukraine sind eindeutig: Erfolgreich sind nicht teure High-End-Systeme, sondern günstige, modifizierte Zivildrohnen, die in Massen verfügbar und flexibel einsetzbar sind. Für die Schweiz heißt das konkret:
- Keine Millionenprogramme für eigene Hochtechnologieprojekte
- Stattdessen Aufbau von Fähigkeiten: Steuerung, Software, Datenverarbeitung, elektronische Kriegsführung
- Nutzung von marktnahen Lösungen mit kurzer Reaktionszeit
Die Schweiz sollte hier nicht Entwicklernation sein, sondern intelligenter Anwender.
6. Quantitative Wehrforschung statt politischer Symbolpolitik
Bisherige Beschaffungsentscheidungen der Schweiz – etwa der Kauf der F-35 – wirken rückblickend wie Entscheidungen aus einem sicherheitspolitischen Paralleluniversum. Sie basieren nicht auf messbaren Wirkprinzipien, sondern auf politischen Reflexen, Lobbydruck und symbolischem Denken. Doch Sicherheitspolitik ist kein PR-Geschäft. Gefragt ist eine neue militärische Planungskultur:
- Objektive, faktenbasierte Bedrohungsanalysen
- Wirklichkeitsnahe Szenarien
- Offene Debatte über Verteidigungsziele und -mittel
- Klares Verhältnis zwischen Kosten und strategischem Nutzen
Nur so kann die Neutralität auch militärisch sinnvoll ausgestaltet werden.
Fazit: Schweizer Verteidigung neu denken – pragmatisch, nicht politisch
Der Wandel der Kriegsführung zwingt zur Kurskorrektur. Die Schweiz braucht keine NATO-kompatible Armee, sondern eine Schweiz-kompatible Verteidigung. Das heißt: Weg von Hochglanztechnik, hin zu robusten, flexiblen und skalierbaren Lösungen. Weg von politischen Showkäufen, hin zu nüchternen, datenbasierten Analysen.
Neutralität muss ein Fundament für glaubwürdige, eigenständige Verteidigungsfähigkeit bilden. Die Schweiz kann sich schützen. Aber nur, wenn sie bereit ist, alte Denkmuster zu hinterfragen und neue Antworten zu finden, die nicht nur modern klingen – sondern im Ernstfall auch funktionieren.