Eine der journalistischen Handwerksregeln lautet: «Audiatur et altera pars» – «Auch die andere Seite soll gehört werden». In deutschen Medien, vor allem denen des Mainstreams, scheint das längst in Vergessenheit geraten zu sein. Das wurde deutlich in der Corona-Panikdemie, trat noch stärker hervor beim Krieg in und um die Ukraine und zeigt sich auch derzeit beim Krieg in Palästina und Israel.
Einer der wenigen Journalisten, die diese Regel noch beachten, ist Patrik Baab, der selbst Jahrzehnte für den öffentlich-rechtlichen Norddeutschen Rundfunk (NDR) gearbeitet hat. Er hat sie bei seinen Reisen in die Ukraine angewandt und darüber ein Buch geschrieben: «Auf beiden Seiten der Front». Dieses hat er am vergangenen Mittwoch bei einer Veranstaltung der Reihe «Denkraum» des «Kulturkreises Pankow» im «Sprechsaal» in Berlin vorgestellt.
Baab ist dafür, dass er sich an Grundregeln seines Berufs hält, angegriffen und diffamiert worden. In der Folge wurde ihm von der Universität Kiel ein Lehrauftrag entzogen. Vor Gericht wurde ihm dagegen Recht gegeben und der universitäre Angriff auf die Pressefreiheit zurückgewiesen. Einen neuen Lehrauftrag hat er aber nicht bekommen.
Der Journalist, der sich zuvor unter anderem investigativ mit der Rolle der Geheimdienste in der westlichen Politik beschäftigt hat, war im Herbst 2021 in der Westukraine und 2022, nach dem russischen Einmarsch, in der Ostukraine. Die Reisen beschreibt er in seinem Buch, ebenso wie die Hintergründe und Zusammenhänge, die zu dem Krieg führten, der längst zu einem Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland geworden ist.
Baab schildert seine Begegnungen mit Menschen «auf beiden Seiten der Front». Ebenso berichtet er davon, was ihm Augenzeugen zum Beispiel über die Vorgänge auf dem Kiewer Maidan-Platz 2013/2014 berichtet haben. Damit und gestützt auf eine Vielzahl von Quellen widerlegt er die offiziellen Darstellungen der durch einen Staatstreich an die Macht gekommenen Kiewer Führung und ihrer westlichen Unterstützer über die angebliche «Revolution der Würde».
In Berlin las er die Passagen über die Geschehnisse auf dem Maidan, über den «Putsch und die Folgen». In dem Kapitel lässt er Augen- und Ohrenzeugen zu Wort kommen, so den ukrainischen Journalisten Dmitrij Wasilez, der seit 2021 im Moskauer Exil lebt.
«Der Journalist und Menschenrechtsaktivist Dmitrij Wasilez kennt den Maidan genau. Er hat mit eigenen Augen gesehen, was sich in jenen Monaten im Winter 2013/14 ereignete: die Demonstranten, die Organisatoren, die Geldscheine, die Waffen, die Toten.»
Ebenso geht Baab auf die geopolitischen Hintergründe des damaligen Geschehens ein, das zur Vorgeschichte des heutigen Krieges gehört. An diese muss immer wieder erinnert werden, angesichts der politischen und massenmedialen Darstellung des «unprovozierten Angriffskrieges» Russlands.
Für jene, die sich seit Jahren mit den Vorgängen in der Ukraine beschäftigen, bestätigt das Buch mit seinen zahlreichen Quellen vorhandenes Wissen und fügt neue Aspekte sowie Details hinzu. Für jene, die aus verschiedenen Gründen bisher nicht so viel darüber erfahren haben, ist es eine hervorragende Quelle zu den politischen Vorgängen wie auch zu den Sichtweisen der Menschen in der Ukraine auf die Ereignisse.
Die zahlreichen Quellen für das Buch sind zwar angegeben, aber nicht abgedruckt im Buch zu finden. Das geschah aus Kostengründen, wie der Autor sagte. Die Angaben sind auf der Webseite des Verlags online zu finden und können dort heruntergeladen werden.
«Inhaltlich stütze ich mich bei den Angaben über den Maidan auf mehrere fachliche Studien», erklärte er in Berlin. Autoren seien solche, die beide Seiten der Ukraine kennen und vor Ort gearbeitet haben.
«Und ich habe selbst noch mal Augenzeugen aufgesucht und auch die Bestätigung erhalten dafür, dass tatsächlich Waffenlager geplündert und diese Waffen zumindest zu einem grossen Teil auf den Maidan verfrachtet worden sind.»
Auf die Frage, worum es den Protestierenden auf dem Maidan gegangen sei, sagte Baab: Der Protest habe «ganz anders begonnen, nämlich tatsächlich als Protestbewegung gegen die Ausplünderung des Landes, gegen die Oligarchen und für eine Befreiung aus diesen postsowjetischen Strukturen». Aber er sei sehr schnell und mit westlichen Geldern umgedreht worden.
Er beschreibt im Buch unter anderem, wie vor allem Menschen aus der Westukraine auf den Maidan gekommen sind, zum Teil besser bezahlt als für ihre Arbeit in der Heimat. Auf die Frage nach den Gründen verwies Baab besonders auf die soziale Lage im westlichen Teil der Ukraine. Von dort kämen vor allem drei Millionen Wanderarbeiter vor dem Krieg, Menschen, die im Ausland ihr Geld verdienten, meistens als Schwarzarbeiter.
Zudem sei ein Grossteil der in der Westukraine dominierenden Landwirtschaft in der Hand ausländischer Konzerne und Investoren, vor allem aus den USA und Westeuropa. Die westukrainischen Bauern gingen oftmals pleite und müssten sich zum Überleben als Wanderarbeiter verdingen. Oder sie folgten den verlockenden finanziellen Angeboten der nationalistischen und neofaschistischen Milizen, die in der Ostukraine gekämpft haben und das noch immer tun.
Patrik Baab bei der Buchvorstellung am 18. Oktober in Berlin (Foto: Éva Péli)
Baab berichtete im Gespräch nach der Lesung von einer Begegnung in der Ostukraine. Bei dem Referendum zum Beitritt zur Russländischen Föderation im September 2022, das er beobachtet hat, habe ihm ein älterer Mann gesagt:
«Sagen Sie den Deutschen mal, dass wir hier nicht mit vorgehaltener Waffe zur Wahlurne getrieben werden. Wir sind der Stimme unseres Herzens gefolgt.»
Das habe er in vielen Gesprächen bestätigt bekommen, berichtete der Autor. Das decke sich auch mit dem Eindruck anderer Journalisten, die vor Ort tätig gewesen seien, und ebenso mit dem Forschungsstand zum Thema.
Gefragt, welches Ende des Krieges in der Ukraine er sehe, zeigte sich Baab sehr skeptisch. Er gehe davon aus, dass Russlands Präsident Wladimir Putin diesen Krieg langfristig innenpolitisch nicht überleben werde. Von der Ukraine werde ein Rumpfstaat übrigbleiben, «in den sich die US-amerikanischen Agrarkonzerne bereits eingekauft und sich eine Landfläche angeeignet haben, die grösser ist als die gesamte agrarische Fläche Italiens».
Der Wiederaufbau werde, wie bereits geplant und vorbereitet, von Finanzkonzernen wie BlackRock verwaltet werden. Die geteilte Ukraine würde von den USA verlassen und den Westeuropäern überlassen werden, welche die Kosten für den Wiederaufbau übernehmen könnten. Baab betonte:
«Und das wird Hunderte von Milliarden kosten für die Europäische Union und bedeutet nichts anderes als einen radikalen Sozialabbau in allen europäischen Ländern, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland.»
Darüber werde aber in der Öffentlichkeit gar nicht diskutiert, stellte er fest. Auch die Übernahme der Ukraine in die EU werde für die Landwirtschaft der bisherigen EU-Mitglieder massive Folgen haben.
Baab kritisiert im Buch deutlich die deutschen «Leitmedien» und Intellektuellen für eine «gemeingefährliche Dummheit, die geeignet ist, dieses Land erneut in den Abgrund zu ziehen». Er wirft ihnen beim Thema Ukraine vor:
«1. Ganz schlechtes Handwerk: keine Prüfung durch zweite Quelle in der realen Welt. 2. Politische Denunziation aus ökonomischem Kalkül. 3. Geschichtsvergessenheit und Ignoranz, sowohl was die eigene als auch was die Geschichte der Ukraine betrifft. 4. Konformismus: der Propaganda ungeprüft erliegen. 5. Vorauseilender Gehorsam: sich selbst zum Werkzeug der Propaganda machen. 6. Antidemokratisches Denken und Handeln.»
Bei der Buchvorstellung in Berlin wurde er ebenfalls deutlich:
«Die Medien sind derzeit der zentrale Kriegstreiber.»
Er beklagte besonders bei den öffentlich-rechtlichen Sendern «handwerkliche Entgleisungen, die eines gebührenfinanzierten Systems unwürdig sind. Das darf ich sagen, weil ich selbst 25 Jahre vor meiner Verrentung NDR-Redakteur war. Und das geht so nicht.»
Auf die Frage nach der Perspektive des Journalismus angesichts von Krisen und Kriegen sagte er:
«Die Mainstreammedien haben in der Corona-Krise und in diesem Ukraine-Krieg im Grunde genommen die Menschen pausenlos angelogen. Wie soll man denn diesen Leuten in den Redaktionen noch etwas glauben? Wir brauchen ein anderes Mediensystem, wir brauchen Gegenöffentlichkeit. Es wird anders nicht gehen.»
Baab erlebt mit seinem Buch nicht nur die Ignoranz der Mainstreammedien, sondern auch, dass viele Menschen sich für das interessieren, was er «auf beiden Seiten der Front» in der Ukraine erlebt hat. Davon kündete am Mittwoch in Berlin ein langanhaltender Beifall des Publikums nach der Lesung und dem anschliessenden Gespräch.
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