Der bekannte Westschweizer Journalist Jacques Pilet analysierte zum Wochenende auf der französischsprachigen Plattform Bon pour la tête die Entwicklungen am BRICS-Gipfel in Kasan und fragt, warum die Schweiz sich unbeteiligt gibt. Der diesjährige BRICS-Gipfel in der russischen Stadt Kasan markiere eine bedeutende Zusammenkunft, schreibt er. In der Tat: Russland, das angesichts der Ukraine-Krise weitgehend isoliert scheint, empfängt hochrangige Delegationen von aufstrebenden Mächten aus dem globalen Süden.
Neben den BRICS-Gründungsmitgliedern China, Indien, Brasilien und Südafrika nehmen erstmals Äthiopien, der Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate teil. Sogar Saudi-Arabien zeigt Interesse, dem Bündnis beizutreten, bleibt jedoch zunächst abwartend. In einer Welt, die von Spannungen zwischen dem Westen und einem wachsendem Block von Schwellenländern geprägt ist, könnte der Gipfel eine Verschiebung im globalen Machtgefüge einleiten, warnt Pilet.
Die BRICS-Staaten, die insgesamt 45 Prozent der Weltbevölkerung und ein Drittel des globalen Bruttoinlandsprodukts (gemessen in Kaufkraftparität) repräsentieren, etablieren sich zunehmend als Gegengewicht zum G7-Block der westlichen Industrienationen. Dies führt in den USA und Europa teils zu Skepsis, teils zu kritischen Stimmen, die auf drei Hauptargumente zur Herabsetzung der BRICS-Bedeutung verweisen. Pilet nennt sie: Zum einen sei das BRICS-Bündnis noch weit von der Einführung einer gemeinsamen Währung entfernt und könne den Dollar nicht ernsthaft herausfordern. Zum anderen gebe es innerhalb des Blocks zahlreiche Konflikte und Differenzen, insbesondere zwischen Indien und China. Drittens werfen westliche Beobachter den BRICS-Staaten ein gemeinsames «antidemokratisches» Verständnis vor und betonen die autoritären Strukturen vieler Mitgliedstaaten.
Doch dieser Ansatz wird der Realität der BRICS-Staaten und ihrem Anliegen nicht gerecht, schreibt Pilet. Es sei zwar korrekt, dass das Bündnis keine gemeinsame Währung plane, jedoch schaffen diese Länder bereits Zahlungsabkommen, die es ihnen erlauben, direkt in ihren eigenen Währungen zu handeln. Dies signalisiere eine allmähliche Loslösung vom US-Dollar und eine Unabhängigkeit in finanziellen Transaktionen. Zudem stelle das Gipfeltreffen in Kasan eine diplomatische Annäherung zwischen China und Indien dar: Die Staatsoberhäupter dieser Länder trafen sich tatsächlich nach fünf Jahren Spannungen erstmals wieder und betonten den Willen, Konflikte zu deeskalieren und gemeinsam voranzugehen.
Die Tatsache, dass in den meisten BRICS-Staaten autoritäre Tendenzen vorherrschen, bringt zwar eine Distanz zum westlichen Demokratieverständnis mit sich, analysiert Pilet, führe jedoch nicht automatisch zu einer völligen Ablehnung westlicher Beziehungen. Vielmehr empfinden viele dieser Staaten die wiederkehrenden Ratschläge aus den USA und Europa zur Demokratieentwicklung als bevormundend und halten dem Westen seine historische Verantwortung für Kolonialismus und seine gegenwärtige «neokoloniale» Haltung vor. Der Westen, so die BRICS-Argumentation, werde zunehmend als Kulturraum wahrgenommen, der sich mit eigenen gesellschaftlichen Krisen auseinandersetze und in einer Phase der Unsicherheit und des inneren Zweifels stecke.
Nicht nur politische, auch wirtschaftliche Aspekte spielen bei der Annäherung der BRICS-Staaten eine Rolle. Mit einer wachsenden Wirtschaftsleistung und deutlichen Wachstumsraten in Asien und Afrika zeigt der globale Süden, dass seine Entwicklung dynamischer verläuft als die stagnierenden Volkswirtschaften Europas und der USA. Diese Staaten, auch als «globaler Süden» bekannt, schaffen mit ihrer Zusammenarbeit eine internationale Plattform, die eine Alternative zur westlich dominierten Ordnung darstellt. Selbst europäische und teilweise europäische Staaten wie Serbien und die Türkei interessieren sich für den BRICS-Ansatz und zeigen durch ihre Teilnahme am Gipfel in Kasan, dass sie die Chancen in dieser wachsenden Gemeinschaft sehen, bemerkt Pilet.
Emmanuel Macron, der französische Präsident, bringe das Geschehen prägnant auf den Punkt:
«Wir erleben das Ende der westlichen Hegemonie. Neue Mächte treten auf, die wir lange unterschätzt haben, nicht nur ökonomisch, sondern auch in ihrer Vision für die Neugestaltung der politischen Ordnung.»
Seine Aussagen spiegeln die wachsende Erkenntnis wider, dass der Westen seine Position in der Welt neu überdenken müsse. Trotz dieser Verschiebungen zeige sich die Schweiz unbeteiligt, kritisiert Pilet. Da sie den Vorsitz des UN-Sicherheitsrates innehat, hätte sie eine Plattform zur Darstellung internationaler Rechtsprinzipien. Außenminister Ignazio Cassis zog es jedoch vor, in New York über die «Bedeutung von wissenschaftlichem Fortschritt und dessen Einfluss auf Frieden und Sicherheit» zu sprechen – ein Thema, das wenig Resonanz fand und in vielen Medien kaum Beachtung erhielt.
Diese politische Zurückhaltung wirft gemäß Pilet Fragen zur Position der Schweiz auf, insbesondere angesichts ihrer jahrhundertealten Neutralität. Es entsteht der Eindruck, dass die Schweiz im geopolitischen Wandel zunehmend orientierungslos wirkt und sich bei drohenden Konflikten lieber zurückzieht. Die BRICS-Allianz jedoch zeige durch ihre Verstärkung, dass eine Verschiebung hin zu einer multipolaren Weltordnung im Gange sei. Selbst Russland, das auf eine Normalisierung mit den USA und Europa hoffe, setze auf die BRICS, um den globalen Diskurs über Machtverteilung und Souveränität neu zu gestalten. Wie die Schweiz und der Westen darauf reagieren, wird die Zukunft der internationalen Beziehungen maßgeblich mitbestimmen, bilanziert Pilet.
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