Bücher, die sich kritisch mit der NATO auseinandersetzen, fokussieren sich vorwiegend auf die Expansion der Organisation und auf deren Wandlung von einem Verteidigungs- zu einem Angriffsbündnis. Dabei geht es um Kriege gegen Länder, die kein Land der Allianz angegriffen haben, wie zum Beispiel Jugoslawien, Afghanistan und Libyen. Ein solcher Angriff wäre jedoch laut Artikel 5 des Nordatlantikvertrags Voraussetzung für eine gemeinsame militärische Reaktion.
Jonas Tögel schreibt in seinem neuen Buch «Kriegsspiele – Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren» hingegen darüber, welche Gefahr die Allianz und die US-Kriegstreiber für Europa selbst darstellen, insbesondere für Deutschland. Auf kompakten, knapp 100 Seiten konzentriert sich der Autor dabei auf die atomaren NATO-Militärübungen während des Kalten Krieges. In seinem Werk, das am 13. Januar erscheinen wird, geht er aber auch auf die Kriegsszenarien der Gegenwart, auf die aktuelle militärische Lage und auf die «kognitive Kriegsführung» ein. Auch kundigen Lesern liefert Tögel manche informative «Perlen», wobei das Thema leider alles andere als schön ist. Für den Widerstand gegen die Kriegstreiberei sind es jedoch relevante Informationen.
Gemeinsam ist diesen «Kriegsspielen» nämlich, dass sie die Zerstörung Deutschlands und anderer europäischer Länder in Kauf nehmen. Tögel zitiert beispielsweise eine Spiegel-Analyse der Militärübung «Wintex-Cimex» im Jahr 1989:
«Die USA sind nicht bereit, mit vollem Einsatz auch die Zerstörung des eigenen Territoriums zu riskieren. Sie haben Europa als Schlachtfeld ausersehen, ohne die vernichtenden Folgen für die Zivilbevölkerung in die Planung überhaupt einzubeziehen. Für die Bundesrepublik ist ein Selbstmordprogramm vorgesehen; sie muss sich an der Zerstörung der beiden Teile Deutschlands beteiligen.»
Der Hintergrund dieser Militärübungen ist laut Tögel die sogenannte «Heartland-Theorie», die ursprünglich vom britischen Geografen Halford Mackinder im Jahr 1904 vorgestellt wurde. Sie unterstreicht die zentrale Rolle der Geografie in der globalen Machtdynamik. Mackinder zufolge ist der Schlüssel zur Beherrschung der Welt die Kontrolle des «Heartland» (Herzland), das Osteuropa, Zentralasien und Westsibirien umfasst. Dieses Gebiet erachtete er aufgrund seiner enormen Ressourcen, seiner zentralen Lage und seiner natürlichen Verteidigungsmöglichkeiten gegen Seemächte als strategisch entscheidend. Die Macht über Osteuropa wiederum würde die Kontrolle über das gesamte «Herzland» bedeuten.
Tögel stellt fest, dass Deutschland nach der Definition der Geografen strenggenommen nicht zum «Herzland» gehört. Seine zentrale Lage lasse dem Land jedoch bei der Frage nach der Kontrolle über dieses Gebiet eine große Bedeutung zukommen.
«Das falsche Schwein geschlachtet»
Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begann Großbritannien gemäß Tögel dessen Fortsetzung «beziehungsweise den Beginn eines Dritten Weltkrieges». Diesmal sollte der Feind die Sowjetunion sein:
«Der britische Premierminister Winston Churchill soll geklagt haben, man habe mit Adolf Hitler ‹das falsche Schwein geschlachtet›. Stattdessen hätte man gegen den sowjetischen Führer Josef Stalin vorgehen sollen.»
Schon am 14. Mai 1945 habe Churchill den Befehl gegeben, dass man die Waffen von zwei Millionen Deutschen nicht zerstören sollte, da «wir eventuell mit Hilfe der Deutschen gegen die Russen kämpfen müssen». So stehe in den Originaldokumenten der «Operation Unthinkable» aus dem Jahre 1945, von der die Öffentlichkeit erst 1998 erfuhr:
«Großbritannien und die Vereinigten Staaten haben die volle Unterstützung der polnischen Streitkräfte und können auf die Nutzung deutscher Streitkräfte sowie der verbliebenen deutschen Industriekapazitäten zählen.»
Tögel erinnert auch an den bekannten Spruch des Briten Lord Ismay, der 1952 zum ersten Generalsekretär der NATO ernannt wurde: Die Aufgabe der NATO sei es, «die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten».
Angesicht einer wahrgenommenen Bedrohung durch die Sowjetunion hätten auch die USA bereits 1945 mit dem «Plan Totality» (Plan Totalität) einen möglichen «konventionellen Angriff für einen totalen Krieg» gegen das kommunistische Land geplant. Kurz danach hätte der Gemeinsame Nachrichtendienst (Joint Intelligence Staff) des Pentagons die Studie «Strategische Verwundbarkeit der UDSSR bei einem beschränkten Luftangriff» vorgelegt, in der der Abwurf von Atombomben, die damals einzig den USA zur Verfügung standen, auf 20 russische Städte vorgesehen war. Doch in weiteren Planspielen kommt es noch dicker:
«Im Jahr 1949 waren es unter der Operation Dropshot schon 200 Ziele in Russland, im Jahr 1957 unter dem Kriegsplan der amerikanischen Luftwaffe («SAC War Plan») gar 3261 Ziele, die in Russland angegriffen werden sollten», so Tögel.
Deutschland «in der Theorie ausgelöscht»
Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO im Mai 1955 sollte laut Bundeskanzler Konrad Adenauer Schutz vor einem möglichen Krieg mit der Sowjetunion bieten. Diese Hoffnung erwies sich jedoch als trügerisch, wie Tögel anhand militärischer Planspiele der NATO aus den 1950er Jahren zeigt, insbesondere der Übung «Carte Blanche» (Freibrief).
Dabei wurde ein Überraschungsangriff eines fiktiven «Nordlands», das für die Sowjetunion stand, simuliert, woraufhin die NATO mit dem Einsatz von Atomwaffen reagierte. Insgesamt wurden 335 fiktive Atombomben eingesetzt, von denen 168 auf deutschem Boden detonierten – sowohl Angreifer als auch Verteidiger wären gleichermaßen getroffen worden.
Die Übung, mit etwa 3000 Flugzeugen aus verschiedenen NATO-Ländern, war gemäß dem Autor die größte Militärübung seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie habe Deutschlands Rolle als Frontstaat im Kalten Krieg verdeutlicht und die verheerenden Konsequenzen eines möglichen Konflikts offenbart. Insgesamt sei man von 4,5 Millionen zivilen Opfern ausgegangen. Deutschland hätte unter der Zivilbevölkerung 1,7 Millionen Todesopfer und 3,5 Millionen Verwundete verzeichnet. Der Spiegel habe die potenziellen Zerstörungen auf deutschem Boden als «jenseits aller Vorstellungskraft» bezeichnet. «Deutschlands Existenz» wäre «in der Theorie ausgelöscht» worden.
In Deutschland sei die Übung von Politikern als «großer Erfolg» bezeichnet worden, stellt Tögel fest. Man habe allerdings gehofft, dass im Ernstfall aufgrund eines militärischen Gleichgewichts beide Seiten auf den Einsatz von Atomwaffen verzichten würden.
Bekannt ist einigen vermutlich die NATO-Übung «Able Archer» (Fähiger Bogenschütze) im Jahr 1983. Laut dem Wall Street Journal hätte sie «fast zu einem großflächigen Atomkrieg geführt, als die Sowjetunion zu der Überzeugung geriet, dass die Vereinigten Staaten tatsächlich einen nuklearen Angriff starten würden», wie Tögel anmerkt. Auch die Sowjetunion hätte aber mehrmals einen atomaren Konflikt simuliert.
Deutschland sagt ausnahmsweise «no!»
Die eingangs erwähnte «Wintex-Cimex»-Übung fand ab 1971 alle zwei Jahre statt. Die zehnte Ausgabe im Jahr 1989 hat aber dem Autor zufolge «für besondere Schlagzeilen» gesorgt. Die Vertreter Deutschlands, die in der Übung die Rolle der deutschen Bundesregierung einnahmen, hätten heftigen Widerstand gegen den von den USA vorgesehenen Kriegsverlauf gezeigt. Sie seien schließlich sogar vom eigentlichen Bundeskanzler Helmut Kohl abgezogen und die deutsche Beteiligung an dem Manöver somit beendet worden.
Wie Tögel erklärt, dienten die regelmäßigen «Wintex-Cimex»-Übungen der Vorbereitung auf die Zeit vor einem Kriegsausbruch und die Mobilisierungsphase, inklusive dem Umgang mit Widerstand. Dabei simulierte man auch Proteste der Friedensbewegung und Streiks von Gewerkschaften, die Nachschubwege der NATO blockierten. Teil des Plans war der Einsatz der Bundeswehr, um in Deutschland gegen streikende Zivilisten vorzugehen.
Den Autor erinnert das an die seit 2017 in Bayern geltende «Unendlichkeitshaft» für «Gefährder», bei der auch Personen, die nur im Verdacht stehen, eine Straftat begehen zu wollen, für potenziell unbegrenzte Zeit inhaftiert werden dürfen:
«In gewisser Weise können die Pläne von Wintex-Cimex als Vorboten der heute stattfindenden ‹schwere[n] Eingriffe in die Freiheitsrechte› der Bevölkerung betrachtet werden».
Der maßgebliche Grund für die Aufregung um die Übung und den Abbruch Deutschlands war allerdings die Unflexibilität der Übung, die «jedesmal im totalen Atomkrieg» geendet sei, zitiert Tögel Michael Kasten und Walter Popp («Bunkerrepublik Deutschland: Zur Strategie der inneren Militarisierung»). Das habe bereits der Vorgänger des damaligen Bundeskanzlers Kohl, Helmut Schmidt, beanstandet. Ihm sei klargeworden, «daß diese Strategie innerhalb weniger Tage zu millionenfacher Vernichtung menschlichen Lebens in beiden Teilen Deutschlands führen könnte». Helmut Kohl zufolge war das Szenario «für uns Deutsche völlig inakzeptabel»:
«Ich habe einen Eid geleistet, Schaden vom deutschen Volk zu wenden, und dazu gehört die DDR auch.»
Wintex-Cimex steht laut Tögel einerseits exemplarisch für die Planspiele des Kalten Krieges, bei denen die USA bereit waren, die Zerstörung Deutschlands und anderer europäischer Länder durch eigene in Europa stationierte Atomwaffen in Kauf zu nehmen, um die vorrückende sowjetische Armee zu treffen und deren Kontrolle über Westeuropa zu verhindern.
Andererseits liefere die Übung wichtige Einblicke in die Befehlsgewalt innerhalb der NATO und die Interessen der unterschiedlichen Parteien:
«Da die USA bei einem (atomaren) Angriff auf die Sowjetunion wahrscheinlich selbst Ziel der (ebenfalls atomaren) Vergeltung geworden wären, hatten sie ein großes Interesse daran, den Krieg auf Europa zu beschränken.»
Fraglich bleibt Tögel zufolge, ob europäische Regierungen, einschließlich Deutschlands, im Ernstfall der atomaren Zerstörung ihres Staatsgebiets zugestimmt und ob die USA den Einsatz von Atomwaffen auch ohne ihre Zustimmung veranlasst hätten. Laut Rainer Rupp, der als DDR-Agent «Topas» NATO-Geheimnisse an die Sowjetunion weitergab, hätten die Regierungen Europas einem solchen Kriegsverlauf niemals zugestimmt.
Atomkrieg im 21. Jahrhundert?
Was die Übertragbarkeit dieser Kriegspläne auf heute betrifft, stellt Tögel fest, dass sich die weltpolitische Lage seit dem Ende des Kalten Krieges erheblich verändert hat. Nach der Auflösung der Sowjetunion habe sich die NATO strategisch neu ausgerichtet. Die heute 32 Mitglieder umfassende Allianz habe sich zunächst unter anderem auf Sicherheit in Europa, Terrorismusbekämpfung und Krisenmanagement fokussiert. Die Strategiekonzepte seien aber fortwährend aktualisiert worden. Zuletzt habe die NATO auf die Invasion Russlands der Ukraine mit dem Strategiekonzept 2022 reagiert, das Russland als «die wichtigste und direkteste Bedrohung für die Sicherheit der Allianz und die Stabilität der Euro-Atlantischen Region» bezeichnet.
Dem Generalleutnant André Bodemann zufolge könnten die Pläne aus dem Kalten Krieg zwar teilweise als Orientierung dienen, seien jedoch nicht direkt übertragbar, da Deutschland heute kein Frontstaat mehr sei, sondern eine logistische Drehscheibe darstelle. Neue Herausforderungen wie «Cyberangriffe» und «Desinformation» würden Anpassungen erfordern.
Laut Veteranen des Kalten Krieges und Politikern, die an den damaligen Planspielen teilnahmen, könnten diese hingegen auch heute noch relevant sein. Die Gefahr einer atomaren Vernichtung Deutschlands und Europas bestehe auch im 21. Jahrhundert. Sie lehnen eine Eskalation des Krieges in der Ukraine ab und warnen vor den potenziellen Folgen einer Konfrontation.
Das Pentagon scheine derweil einen Atomkrieg gegen Russland nicht mehr auszuschließen, erklärt Tögel. Er begründet diese Einschätzung mit einer Ausschreibung für eine Studie vom September 2024, «mit der die Auswirkungen eines Nuklearkrieges in Europa auf die Landwirtschaft untersucht werden sollen».
Die Relevanz der Friedensbewegung
Tögel konstatiert, dass die Stationierung neuer US-Waffensysteme in Deutschland im Juni 2024 auf wenig Widerstand seitens der Bevölkerung stieß. Die taz habe sogar «verwundert» gefragt, warum «es heute keinen solchen Aufschrei» wie in den frühen 1980er Jahren gebe. Damals mobilisierten die Stationierung US-amerikanischer Pershing-II-Raketen und die zugespitzten Spannungen zwischen NATO und Warschauer Pakt Millionen Menschen, die für Frieden demonstrierten. 1983 gelte als «das gefährlichste Jahr im Kalten Krieg», so Andreas Beckmann vom Deutschlandfunk.
Die heutige Zurückhaltung wird laut taz auf den russischen Überfall auf die Ukraine zurückgeführt, der «den Traum von einer friedlicheren Welt» für viele unerreichbar erscheinen lässt. Die Angst vor einem möglichen Angriff Russlands auf NATO-Territorium, auch Deutschland, werde als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen und scheine den Widerstand gegen Aufrüstungspläne zu lähmen.
Aus Sicht der kognitiven Kriegsführung zeigt sich laut Tögel, dass «das westliche Narrativ eines unprovozierten russischen Angriffs auf die Ukraine und des drohenden russischen Überfalls auf weitere Länder Europas fest in den Köpfen und Herzen vieler Menschen verankert ist».
Tögel weist auf die wachsende Rolle der kognitiven Kriegsführung (Soft Power) im 21. Jahrhundert hin. Während militärische Macht (Hard Power) immer noch von großer Bedeutung sei, werde der Kampf um die öffentliche Meinung durch psychologische Beeinflussung immer wichtiger. Bei modernen Konflikten gehe es weniger um die Kontrolle von Territorien als vielmehr darum, die Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen. Und deklassifizierte Dokumente des Pentagon und der National Security Agency (NSA) zeigen, dass sich die «nuklearen Krieger» der Rolle der öffentlichen Meinung in der Prävention eines Atomkrieges bewusst sind.
Der Autor plädiert deshalb für eine offene Diskussion über die Ziele und Auswirkungen von Militärübungen. Solche Debatten seien entscheidend, um das Bewusstsein zu schärfen und den Widerstand gegen eine nukleare Eskalation zu fördern. Somit verwundert es nicht, dass die Auswirkungen der simulierten Atomkriege verheimlicht wurden, wie zum Teil auch die Planspiele selbst.
Tögel ruft dazu auf, sich aktiv für friedliche Lösungen aktueller Konflikte einzusetzen. Nur durch kollektives Bewusstsein und Handeln könne die katastrophale Aussicht auf einen Atomkrieg – sei es in Deutschland oder anderswo – verhindert werden. Den Weg zum Frieden sieht er in informierten, engagierten und entschlossenen Gesellschaften, die bereit sind, die Narrative zu hinterfragen, die Konflikte aufrechterhalten. Jonas Tögel liefert der Friedensbewegung mit seinem Werk überzeugende Argumente.
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Dr. Jonas Tögel ist Amerikanist, Propagandaforscher und Bestsellerautor. Er hat zum Thema Soft Power und Motivation promoviert und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Motivation, der Einsatz von Soft Power-Techniken, Nudging, Propaganda sowie epochale Herausforderungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Beim Westend-Verlag erschien zuletzt sein Bestseller «Kognitive Kriegsführung» (2023).
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