Unter Pfarrern kursiert ein Bonmot. Religionsschüler wurden gefragt, was denn für sie christlicher Glaube sei. Die spontane Antwort: «Christentum ist das, was man nicht darf.» Hin und wieder habe ich dieses Beispiel im Konfirmandenunterricht erzählt. Wen wundert’s, dass wir dann jedes Mal direkt auf die Zehn Gebote zu sprechen gekommen sind?
Du sollst ..., du sollst nicht …, du sollst nicht …, du sollst … − Da haben wir’s ja! Offenbar stehen im Zentrum vom Glauben moralische Verhaltensregeln. Der Protest dagegen ist geradezu ein Reflex, vor allem bei Menschen, die man damit Druck aus frühen Tagen oder kirchliches Machtgebahren verknüpfen.
Es gibt aber auch das Gegenteil. «Ja, wenn sich alle Menschen dran hielten, würd es besser ausschauen auf der Welt.» Die Zehn Gebote wirken hier offenbar zweifach: Sie rühren an ein ethisches Grundempfinden, aus dem heraus man sie grundsätzlich gutheißt, und zugleich werden sie als ein Maßstab wahrgenommen, dem nur schwer zu entsprechen ist, das berühmte innere Soll oder zumindest Sollte.
Peter Haisenko nennt die Zehn Gebote «das bekannteste Universalgesetz», «einen Moralkodex». Aber er will dafür aber nur die (nach lutherischer Zählung*) 7 Gebote der sogenannten zweiten Tafel gelten lassen, als da wären: die Eltern ehren, nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht lügen und weder nach Haus noch Frau eines anderen schielen. Die ersten 3 überspringt er − «denn die beziehen sich nur auf eine Religion»: den Einen Gott nur verehren, Seinen Namen nicht missbrauchen, göttliche Ruhe gewähren.
Sehr modern, diese Reduzierung. Ähnlich wie die Säkularisten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wie mir in Basel bei einer Stadtführung erklärt wurde. Die Reliquien in den kunstvoll geschmiedeten und verzierten Rahmungen und Gefäßen haben sie rausgeworfen; es kam ihnen nur auf die kostbare Verpackung an. Und die ist beispielsweise im dortigen Barfüßer-Museum weiterhin zu bestaunen. Den einen ist das der eigentliche Wert, den anderen eine nurmehr leere Hülle.
Das Ethos der «zweiten Tafel» − eine entkernte Hülle? Funkeln und strahlen tut sie ja weiterhin; Universalgesetz, Moralkodex, «wenn sich nur alle …» und so. Jedes hehre Ideal strahlt und zieht an. Es weckt das Soll, das Sollte, den schlummernden Maßstab vom heilen Menschen, von der gesunden Welt. Und er konfrontiert mit der eigenen Unfähigkeit.
«Die heidnische Phrase, man muss sich umstellen, hat den Sachverhalt erfaßt. Jetzt muß er beseelt werden», meint dazu Eugen Rosenstock-Huessy in seinem Buch «Heilkraft und Wahrheit».
Den Reliquien hatte man so eine beseelende Kraft zugesprochen. Der Glitzer drumherum sollte die Ehrfurcht widerspiegeln, mit der man sich dieser Kraft näherte. Die Schönheit des Ganzen war von innen her begründet, abgeleitet, und nicht von außen als rationaler Wert zugesprochen.
Das kann ein Bild sein für die Zehn Gebote in unseren «aufgeklärten» Zeiten:
- Die Verhaltensregeln sind doch das Wesentliche; die Religion ist unnötige Zugabe. Wir kriegen das hin, wir sollten es jedenfalls immer wieder versuchen. − Oder:
- Zentral ist die Gottesverehrung; das entsprechende Verhalten ist kein unabhängiges Gebot, sondern die angemessene Antwort mit dem Leben.
Der Unterschied ist groß. Sind jene 7 Gebote Forderungen, oder sind sie Folgerungen? Wer sie befolgt oder zu befolgen sucht: Nähert er sich damit der heilen oder zu heilenden Gemeinschaft oder kommt er bereits von ihr her? Umkreist das Ethos einen säkularen Hohlraum oder wird es von einer heiligen Mitte erst freigesetzt?
Für Letzteres sprechen zwei Beobachtungen. Zum einen ist das, was im Hebräischen als eine Art Imperativ daherkommt, sprachlich zugleich ein Futur. Damit ist ausgedrückt: Was geboten ist, das liegt ohnehin vor einem als das Angemessene. Zum anderen stehen 1-3 und 4-7 zueinander in einer Wenn-Dann-Struktur; 1-3 sind das Wenn, 4-7 das Dann:
«Wenn du das gelten lässt und damit wahr machst, dass der lebendige Gott dich aus deiner Gefangenschaft befreit hat und du seinen Namen und seine Zeiten dir hochhältst, dann wird dir ein Leben möglich und gegeben sein, das von diesen neuen Eckpunkten geprägt ist.»
Als «die zehn großen Freiheiten» beschreibt der Religionspädagoge Ernst Lange diese «Zehn Gebote». Und wir wissen ja aus der Präambel der Schweizer Bundesverfassung, «dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht».
Christentum sei das, was man nicht darf? Für eine formale Gläubigkeit mag der Satz zutreffen. Aber dabei wollen wir uns nicht aufhalten, sondern den Bogen schlagen in den tatsächlichen Neuen Bund. Der Rhythmus ist dort der genau gleiche wie bei den Zehn Geboten: Befreit durch Christus, den Immanuel («Gott mit uns»), zu «einem neuen Leben» (Römer 6, Vers 4).
Wer von der inneren Freiheit herkommt, lebt anders mit diesen Gebotene als wer sie als äußere Moral betrachtet. Er hat Kraft wie auch Gelassenheit gefunden. An dieser Stelle unserer Tour d’Ésprit grüße ich Peter Haisenko und lade ihn ein zu einem solchen Wechsel der Perspektive.
Zusammengefasst hört sich der bei Paulus so an:
«Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.»
2. Korinther 3,5-6
.
* Aus politischen Gründen übernahm Martin Luther das eigentlich 2. Gebot (das Verbot, sich von Gott Bilder zu machen) nicht auf in seine Zählung. Es stand zu befürchten, dass es den sogenannten Bilderstürmern dieser Zeit weiteren Auftrieb gegeben hätte und die ganze Bewegung in einen Bürgerkrieg hätte führen können.
*************
Wort zum Sonntag vom 17. August 2025: Mensch, wo bist du?
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.