In der Schweiz gibt es in vielen Wahlgesetzen Wohnsitzbestimmungen. Es wird – außer beim Nationalrat – in der Regel vorgeschrieben, dass Kandidaten für ein öffentliches Amt dort wohnen, wo sie kandidieren.
Die strikte Anwendung des Wohnsitzkriteriums ist in der letzten Zeit unter Druck gekommen. Und nun kam diese Woche die Ohrfeige aus dem Bundesgericht in Lausanne. Der 2023 gewählte Schaffhauser Ständerat (Mitglied der Schweizer Kantonskammer) Simon Stocker verliert seinen Ständeratssitz, weil er mehr Zeit in Zürich als in Schaffhausen verbracht hat. Stockers Frau arbeitet in Zürich, das gemeinsame Kind geht dort in die Schule und zumindest unter der Woche lebt auch Stocker dort. Die Papiere hat er allerdings in Schaffhausen. In Zürich hat er Wochenaufenthalterstatus.
Der Kanton Schaffhausen muss nun neue Ständeratswahlen durchführen. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt der Sitz vakant.
Es gibt in der Schweiz mehrere solche Beispiele. Die Fraktionschefin der Grünliberalen, Tiana Angelina Moser, ist beispielsweise Zürcher Ständerätin, wo sie mit den Kindern lebt. Ihr Mann ist der Berner Tiefbaudirektor und frühere Fernsehmoderator Matthias Aebischer (SP).
Gegen die Wahl in Schaffhausen wurde Beschwerde eingelegt. Das lokale Gericht hat diese noch abgeschmettert, während sie nun vom obersten Gericht in Lausanne geschützt wurde. Eine Ohrfeige für die Vorinstanz.
Die Bundesrichter entschieden, dass Stocker aufgrund seines Wohnsitzes in Zürich nicht für den Ständerat von Schaffhausen kandidieren konnte. Die Entscheidung war dabei nicht politisch motiviert, sondern beruhte einzig auf einer rechtlichen Auslegung der Wohnsitzvorschriften. Für das Bundesgericht war es eine klare Rechtsfrage: Ein Ständerat muss in dem Kanton leben, den er vertritt. Die Richter gingen der Frage nach, ob Stocker seinen Wohnsitz in Schaffhausen hatte, und kamen schnell zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall war.
Die Medien verurteilten das Urteil gestern praktisch einhellig und bezeichneten es als nicht mehr zeitgemäß in Zeiten der Mobilität, der Patchworkfamilien, der Arbeitsnomaden und der Karrieren an verschiedenen Orten.
Die NZZ kritisierte den Entscheid als nicht mehr zeitgemäß und stellte infrage, ob solche strengen Wohnsitzvorschriften noch in die moderne Gesellschaft passten. Die Zeitung argumentierte, dass es keine Rolle spielen sollte, wo ein Politiker wohnt, solange er in seiner Arbeit im Parlament engagiert ist und sich den Bedürfnissen der Wähler widmet.
Der Tages-Anzeiger präsentierte zwei gegensätzliche Meinungen: Eine Kommentatorin kritisierte das Urteil als unangemessen und stellte die Frage, ob es nun notwendig sei, dass Nachbarn von Politikern deren Wohnort überwachen und kontrollieren, wie oft diese tatsächlich zuhause sind. Auf der anderen Seite wurde aber auch betont, dass Präsenz und Kontinuität für ein politisches Amt wichtig sind und dass ein Ständerat, der nicht in seinem Kanton lebt, seine Wähler weniger gut vertreten kann.
Einzig das Portal Inside Paradeplatz konnte dem Gerichtsentscheid etwas Positives abgewinnen: Die wichtigste Begründung des Bundesgerichts sei, dass das Gesetz klar sei und keine Ausnahmen für persönliche Lebensentwürfe oder moderne Lebensrealitäten vorsehe. Das Gericht stellte fest, dass das Gesetz den klaren Wohnsitz eines Kandidaten in dem Kanton verlange, den er im Ständerat vertreten möchte. Damit mache das Bundesgericht deutlich, dass es im Rechtsstaat nicht um individuelle Vorstellungen von Lebensweise geht, sondern um die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften, auch wenn diese als altmodisch oder unangemessen erscheinen mögen.
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