Die Not hatte sie zusammengeführt in dem kleinen Dorf in Oberfranken. «Das Chaos an allen Fronten», wie ihr Berichterstatter Edmund Heinz schreibt, «weckte in einigen verantwortungsvollen Menschen den Wunsch, sich mit anderen Menschen zu treffen, um aus den Ursachen des Verfalls den Weg in die Zukunft zu finden».
Man schreibt den Mai 1946. Die Schrecken von Krieg und Diktatur sind vorüber, und das grosse Vakuum erfüllt die Menschen; materiell, aber eben auch geistig. Dem wollten diese Gesellen «aus allen Gauen Bayerns» nicht ausweichen, sondern stellvertretend für ihr ausgeblutetes Volk versuchen, «Vergangenes zu beurteilen und aus dem Urteil über das Vergangene aus gemeinsamem Bemühen ein Wort über die Zukunft zu buchstabieren».
Begriffe wie «Vergangenheitsbewältigung» oder «Aufarbeitung des Geschehenen» waren offenbar noch nicht erfunden, und so konnten sie sich ohne dem Pathos eines klangvollen Etiketts ihrer Aufgabe widmen. Vom «round table» aber berichten sie bereits, an dem sie sich «im gegenseitigen Gespräch über Meinungsverschiedenheiten hinweg zu begegnen» suchten, «auf persönlicher Ebene, von Mensch zu Mensch».
Allein die «offene Bereitschaft für das eigene Erkennen und die Worte des anderen» sollten gelten. Ihr Ziel war «die stille Hoffnung, die eventuell künstlichen Klüfte zu verringern, um die Menschen der getrennten Ufer im gegenseitigen Verstehen einander zu nähern».
Vorväter als Vorläufer. Ganz so weit wie sie sind wir noch nicht, weder mit der Katastrophe noch im Ringen um einen neuen Anfang, und auch nicht im Bemühen, den anderen so vorurteilsfrei wie möglich zu verstehen. Das ist nicht schlimm, auf Ersteres bezogen ohnehin nicht. Umso mehr ist jetzt die Zeit, einen neuen Anfang für unsere Gesellschaften vorzubereiten: in unserer Haltung und Einstellung, aber auch im ersten Sammeln neuer Kreise, Gruppen, Gemeinschaften.
Das besagte Treffen in Oberfranken verlief allerdings nicht so harmonisch wie gedacht. Denn «da kam gegen Schluß der Sitzung am Sonntag ein flüchtiger Bursche von auswärts». Es war «Funktionär einer Partei». Auch ihn wollte man «als Menschen hören, als einfachen, sozusagen politisch unbelasteten Menschen».
«Er sollte sich äußern wie jeder andere am runden Tisch, im Vertrauen auf das menschliche Verstehen, auf die aus solchem Verstehen geborene Verschwiegenheit und Ehrfurcht vor der Meinung des anderen, der lebendigen Äußerung einer fremden Persönlichkeit.»
Damit war er überfordert. «Seine Meinung äußern? Vor diesem Kreise sich zu äußern?» – Es kam, wie es kommen musste: «Sein Wort klang feindlich.» Ohne dem «Bewußtsein einer Rolle über eine Sache zu sprechen», von Angesicht zu Angesicht, ohne einem Gefälle von Rang und Namen», das zog ihm den Boden unter den Füssen weg. Mit der inneren Sicherheit schwand auch seine Überzeugungskraft.
Man solle jetzt nicht viel herumgrübeln, sondern sich der «Not der Stunde» widmen; «helfen und wieder helfen», war sein Votum. Und ja:
«Diese Worte klangen vernünftig und versöhnten. Doch konnten sie nicht mehr voll überzeugen. Wozu noch Parteien und ihre Programme?»
Was genau hatte dieser später Gast denn falsch gemacht? «Er vertauschte oder verwechselte seine Meinung über die geschichtliche Frage mit der existentiellen Aufgabe der Stunde, ohne ihren politischen Hintergrund.»
Vielmehr galt es, zur anderen Schicht des Menschseins vorzudringen, die «gleichsam verborgen und verboten» brachliegt, sie zum Leben zu erwecken und ins Wagnis der Begegnung einzubringen.
Nur so, schreibt der Berichterstatter unter den damaligen Teilnehmern, erreiche man den «Bruder, der leidet, wie ich leide, und der helfen möchte, wie wir alle helfen möchten», statt den Weg versperrt zu finden von der «Wucht einer trennenden Idee».
Dieses Erlebnis zeigte der tastenden Schar «die Ursache der Krise des Politischen: die Gefährdung des Menschen, seiner geistigen und persönlichen Unmittelbarkeit, durch die Tyrannei des Politischen».
Man lese ein halbes Dutzend Artikel auf einer alternativen Nachrichtenseite, und man weiss, wovon der Autor spricht. Und zu wem er spricht, nämlich zu Menschen, die den steigenden Pegel der Beklommenheiten und des Zwiespalts, der Ohnmacht und der Enttäuschung, spüren und sich dieser Last widmen, vorausschauend und rückblickend: voraus auf mögliche «Entwicklungen» und zurück auf Mutmacher für die eigene Freiheit.
Erste dieser Gruppen und Gemeinschaften sind heute wieder am Entstehen und Wirken; manche eher praktisch ausgerichtet, andere suchen die Fundamente für ein neues Miteinander. Hier sollten und müssen die Christen sich in die vorderste Reihe stellen, wenn sie denn ernst machen wollten mit dem Zuspruch, dass sie «der Welt gestorben» sind und nun «Dein Wille geschehe: im Himmel – wie auf Erden».
Unnötig, zu ergänzen, dass dieser «Tod» das immer neue Ende der eigenen Beklommenheit und Ohnmacht bedeutet und jener «Wille» sich nicht verträgt mit Herrschaft, Macht und Krieg. «Freiheit in Christus» nennt das der Apostel Paulus.
Und wenn sie scheitern, diese spurenden Gruppen? Dann scheitern sie ehrenvoll. Sie hätten ihren eigenen Geist lebendig gehalten und einer nächsten oder übernächsten Generation ein Samenkorn gelegt. Gleichwie uns jene Freunde des Jahres 1946.
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Wort zum Sonntag vom 5. November 2023: Die berühmten kleinen Anfänge
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.
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