Die Anweisungen hatten etwas derart Unwirkliches, dass auch die direkt Betroffenen sich erst wieder orientieren mussten. An zwei Demonstrationen in Deutschland wurden in der vergangenen Woche Sprachverbote erlassen. Redeverbote und Platzverweise etc., das kennt man schon. Aber explizite Verbote einzelner Wörter und Wendungen, das ist eine neue Qualität.
Es ging zum Beispiel um die Worte «Kind» und den Aufruf «Stoppt den Krieg». Beides wurde den Menschen an den Mikrophonen untersagt zu verwenden.
Die Zusammenhänge, in denen sie dort auftauchten, waren schlimm und tragisch, ja. Es ging ums Entsetzen über Tausende im Gaza-Streifen getöteter Kinder und über einen Krieg, in dem der Oberbefehlshaber sämtliche resthumanen Regeln von vornherein für ungültig erklärt hatte. Diese Not, dieses Leid, durfte nicht sprachlos bleiben.
Sollte es aber wieder werden. Denn kaum waren diese Dinge benannt worden, mahnte die Polizei, man dürfe das nicht mehr sagen. Der eine Redner quittiert das, indem er diese Anweisungen entrüstet-souverän sofort weitertrug und damit die vermeintlichen Ordnungshüter bloßstellte; in der anderen Aufzeichnung ist zu hören, wie Umstehende sie mit hämischem Lachen begleiten.
Was geht da vor? Soll nun das berüchtigte «Canceln» auch die Alltagssprache und das natürliche menschliche Empfinden umprägen, sprich: zum Schweigen bringen? Welche Art von Mensch bliebe übrig? Ein haltloser und fremdgesteuerter, ein eingeschüchterter, der am Ende gar keine Befehle mehr nötig hat, weil sein inneres Radar beständig den Äther nach dem absucht, was gerade zu erwarten oder zu befürchten wäre.
Haben sich jene Polizisten darüber Rechenschaft gegeben, dass sie als Sprachrohre für Ideologien fungiert haben? Denn die reduzieren den Menschen «auf das Minimum der Zustimmung: auf das reine Jasagen, auf das formale Bekenntnis, in den groben Fällen auf das Mitmachen und Mitmarschieren», wie das vor Jahrzehnten schon der Soziologe Hans Freyer beschrieben hat (Seite 142).
Ihre Systeme sind «vollständige geistige Apparaturen mit eingestimmten Gefühls- und Verhaltensreaktionen, mit festgelegten Seligpreisungen und Verdammungen» (Freyer, Seite 144). Selig ist, wer sich freiwillig einer einzelnen Kriegspartei bedingungslos verschreibt und sich den eigenen Starrsinn als «...-Räson» schönredet. Verdammt werden sollen jene, deren Gefühle und Verhalten noch nicht geeicht und flachgebombt sind, räsonbewehrt.
Kein «Kind», kein «Stoppt den Krieg»? Weil es unschöne, nichtopportune Assoziationen bei manchen Außenstehenden auslöst? Das ideologische Grundmuster dahinter ist bekannt: Was die Empfindungen des anderen stören könnte, ist tunlichst zu vermeiden. Eine ganze Gender-Industrie saugt sich daraus ihr hauseigenes Moralin. Auf derselben Grundlage erteilte Anweisungen der Polizei entlarven die dahinterliegende Menschenverachtung zur Kenntlichkeit.
Sollten diese einzuübenden Reflexe der Zurückhaltung auf einer ersten Stufe den Verworrenheiten von Individuen Raum geben, so zeigt sich nun, dass geforderte Schweigegebote regelrecht tödlich sein können. Wer Morde an Kindern nicht mehr benennen darf, billigt sie, und wer sich nicht für das Ende eines Krieges aussprechen darf, gibt dessen Treibern freie Hand.
«Was nicht benannt wird, ist unsichtbar», lautet ein Mantra der Fetischisten von Sprach-Sternchen und -Doppelpunkten. Wenn Tod und Verderben nicht benannt werden – werden sie dann ebenfalls unsichtbar? Wohl kaum, sondern zunächst werden die gemassregelten Menschen «gegeneinander vereinzelt und sekundär massiert» (Freyer, Seite 147). In einem zweiten Schritt wird eine im Schweigen verbrannte innere wie eine mit roher Gewalt zerstörte äussere Erde den Machttrieben selbstherrlicher einzelner ausgeliefert.
Es waren «nur ein paar Anweisungen», würden vielleicht jene Einsatzleiter beschwichtigen – und sich damit jegliche Rechenschaft verweigern über die dahinterstehende Geisteshaltung des Totalitären und der Angst.
«Wehre den Anfängen!» schrieb der römische Dichter Ovid und fuhr fort: «Zu spät wird die Medizin bereitet, wenn die Übel durch langes Zögern erstarkt sind.»
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«Legt deshalb die Lüge ab», mahnte wenig später der Apostel Paulus und fuhr fort: «Redet die Wahrheit, jeder mit seinem Nächsten; denn wir sind als Glieder miteinander verbunden.» Epheser 4, Vers 25
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Wort zum Sonntag vom 29. Oktober 2023: Beten für Verschüttete
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.
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