Manche Redewendungen und Erzählungen aus der Bibel sind zum Kulturgut geworden, ob wir nun von einem «Exodus» reden oder von einem «verlorenen Sohn», von der «anderen Wange» oder der «Nächstenliebe», der «Hiobs-Botschaft» oder dem «Buch mit sieben Siegeln». Zu trauriger Berühmheit hat es auch das «Goldene Kalb» gebracht.
Auf dieses Bild wird immer dann zurückgegriffen, wenn einer Sache irrationale Dimensionen zugesprochen werden: Heils-Versprechen, die völlig aus dem Ruder laufen, oder ein Wahn, in den sich eine Gruppe gesteigert und mit unmöglichen Hoffnungen aufgebläht hat. Hier sprechen dann auch säkulare Menschen von einem Götzendienst.
So manche Sau wurde und wird durchs planetarische Dorf getrieben und verwandelt sich kurz darauf in ein Goldenes Kalb. Probleme werden geschaffen und mit einer Angst verknüpft; die «Lösung» folgt auf den Fuß und wartet nur noch auf ihre Anbetung: die CO2-neutrale Wirtschaft erlöst von einer überhitzten Atmosphäre, der digitale Groschen von jeglicher Geldwäsche, das Gottesgeschenk mRNA von bald jeder Krankheit, ....
In der ursprünglichen Erzählung vom Goldenen Kalb stecken weitere aufschlussreiche Details, die moderne Wahnvorstellungen entlarven helfen und uns das rechte Maß für Leben, Verantwortung und Anbetung zurückgeben.
Die Geschichte hat einen Vorspann. Moses, der das Volk aus der Gefangenschaft in Ägypten geführt hat, wird nach gut acht Wochen Wanderschaft zu einer langen Begegnung mit Gott selber auf den Berg Sinai berufen, nach heutiger Zählung fast zwölf biblische Kapitel lang. Er sollte Weisungen empfangen; die Leiterschaft und das Volk waren mit dem Vorgehen einverstanden (2. Mose 19).
Waren es viele Tage, waren es einige Wochen, die Mose sozusagen beruflich abwesend war? Zu lange jedenfalls für ein Volk, nach der ganzen Aufregung von der Flucht jetzt untätig in der Wüste lagert. Es muss doch vorwärtsgehen!
«Als aber das Volk sah, dass Mose ausblieb und nicht wieder von dem Berge herabkam, sammelte es sich gegen Aaron und sprach zu ihm: Auf, mache uns Götter, die vor uns hergehen! Denn wir wissen nicht, was diesem Mann Mose widerfahren ist, der uns aus Ägyptenland geführt hat.» (2. Mose 32, Vers 1)
- Kennzeichen 1: Die Ungeduld, wenn es nicht weitergeht, schreit nach einer Lösung.
Aus Ungeduld wurde Unglaube, aus Unglaube wurde Untat, und die besteht darin, einen Weg eigenmächtig abzukürzen, vermeintlich abzukürzen. Eine Macht des Faktischen unterbricht das gute Warten. Was sich über kurz oder lang entweder von selber einstellen würde wie eine abklingende Infektion oder ein mühsam verhandelter echter Frieden wird von Mächten des Todes sabotiert, weil die eine rasche Lösung vorgaukeln.
Auch das Volk Israel wollte es so, und die Leiterschaft stellte sich dem nicht in den Weg; im Gegenteil:
«Aaron sprach zu ihnen: Reißt ab die goldenen Ohrringe an den Ohren eurer Frauen, eurer Söhne und eurer Töchter und bringt sie zu mir. Da riss alles Volk sich die goldenen Ohrringe von den Ohren und brachte sie zu Aaron. Und er nahm sie von ihren Händen und formte das Gold und machte ein gegossenes Kalb. Und sie sprachen: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt haben!» (2. Mose 32,2-4->https://www.bibleserver.com/LUT/2.Mose32%2C2-4)
- Kennzeichen 2 ist also: Die Leiter lassen jeden Willen zu guter Führung vermissen und reden und handeln dem (ungeduldigen oder manipulierten) Volk nach dem Maul.
Alles läuft zunächst nach Plan. Die Lösung ist da und wird von der Masse gebilligt. Ja, mehr als das: Man betet sie an und verfällt in Hysterie.
«Und sie standen früh am Morgen auf und opferten Brandopfer und brachten dazu Dankopfer dar. Danach setzte sich das Volk, um zu essen und zu trinken, und sie standen auf, um ihre Lust zu treiben.» (2. Mose 32,6)
Biblisch ginge es um die Freiheit der Kinder Gottes im Geist; dem Zeit-Geist geht es um die Zügellosigkeit «im Fleisch» als der weltlichen Abkürzung fürs Heil. Aggressivität und Hedonismus sind Zwillinge. Wer sich an der eigenen Größe berauscht ‒ und sei nur eine von falscher Seite übernommene −, der lässt sich da nicht mehr dreinreden. Man hat es nun ja geschafft! Wer oder was sollte einem noch Grenzen setzen?
«Mose wandte sich und stieg vom Berge. (…) Als nun Josua das Geschrei des Volks hörte, sprach er zu Mose: Es ist ein Kriegsgeschrei im Lager. Er antwortete: Es ist kein Geschrei wie bei einem Sieg, und es ist kein Geschrei wie bei einer Niederlage, ich höre Geschrei wie beim Tanz.» (2. Mose 32,15.17f)
- Kennzeichen 3 wäre damit: Ein Rausch bemächtigt sich der Massen und lässt sie jeden Maßstab verlieren.
- Daraus folgt das 4. Kennzeichen von kalbsorientiertem Wollen und Handeln: der Missbrauch der eigenen Gaben.
Das Gold aus Ägypten hätte den Israeliten den Neuanfang im Gelobten Land erleichtern sollen. Sie verscherbeln es für falsche Träume. Die Gaben werden falsch eingesetzt. Auch die Talente der Handwerker waren nach 2. Mose 31 für einen göttlichen Auftrag vorgesehen. Sie flossen nun ins Gießen eines Götzenbildes.
In unseren Tagen missbrauchten und missbrauchen Polizisten und Richter das Vertrauen der Bürger und tanzen gehorsamsblind um staatliche Weisungen, Kirchenleute scharen sich um ein regenbogenfarbenes Kalb, Ärzte ummanteln es mit ihren weißen Kitteln und machen Patienten zu Todeskandidaten. Keiner kann warten: nicht auf die Argumente des Bürgers, nicht auf ein klärendes Wort der Schrift, nicht auf die Erkenntnis für eine vernünftige Diagnose.
Diese Mechanismen spielen auch auf dem Feld des Religiösen. Warum sich etwas sagen lassen von einem Jesus aus einem Buch, das ohnehin «nur von Menschen geschrieben» und «vielfach verfälscht worden» sei, wie Suggestivlehrer unserer Zeit mutmaßen. Der Ausweg ist die je eigene «Spiritualität»: Wer alles schon längst «in sich trägt», muss sich von keinem etwas sagen lassen. Das Goldene Kalb wird internalisiert, Moses und die Schriften können warten.
Glaube hingegen hieße: Ich gebe Antwort auf ein Geschehen, ein Wort, das mir von außen her begegnet ist, mich angeredet hat.
- Kennzeichen 5 also: Das Kalb streichelt die verängstete oder aufgeputschte Seele.
Auf eine solche Anrede als Gegenüber legt es Moses hingegen an; mit dem Auftrag, so ein Wort auszurichten, kehrt er vom Berg zurück. Auf seinen Tafeln steht nicht weniger als die Zehn Gebote. Aber er kann das Wort nicht ausrichten, solange die Menschen wahnhaft denken und glauben. Also hält er als erstes der Leiterschaft ihr Versagen vor.
Wie reagiert die darauf? Mit zwei Strategien: Zum einen versteckt sie sich hinter dem Mehrheitswillen («Sie sprachen zu mir: Mache uns Götter, die vor uns hergehen», Vers 23), und zum anderen redet sie sich darauf hinaus, dass sich die Dinge «halt so entwickelt hätten». Also ist keiner verantwortlich.
«Und ich warf das Gold ins Feuer, und daraus ist dieses Kalb geworden»; Vers 24.
Mit den Ausflüchten heutiger Zeit-Prominenz kann jeder selber eine Gegenrechnung erstellen. Die Mechanismen sind unverändert inkraft.
- Halten wir auch Kennzeichen 6 fest: Die Verursacher bleiben uneinsichtig.
Auf eine Einsicht aber kann Moses nicht warten, zuviel steht auf dem Spiel. Er greift durch und zermalmt den Götzen unwiederbringlich. Die Täter werden rigoros bestraft, so rigoros, wie man das vielleicht alten Zeiten tatsächlich zugestehen muss. Das steht uns nicht zu und ist auch nicht als Gebot aus solchen Erzählungen abzuleiten.
Heute geht es um ein Vierfaches:
- ums Festhalten am Unterschied von Gut und Böse
- ums Einfordern irdischer Gerechtigkeit
- um den gottgeschenkten langen Atem des Ausharrens und Widerstehens
- um den Glauben an Gottes spätere große Gerichtsbarkeit
Was an der ganzen Erzählung überdeutlich wird, ist das eine: Das Spiel mit einem Goldenen Kalb ist und bleibt ein Spiel auf Leben und Tod. Gott hat beides vor uns gelegt und dazugesagt:
«Wählt das Leben, damit ihr am Leben bleibt, ihr und eure Nachkommen!» 5. Mose 30,19
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Wort zum Sonntag vom 11. August 2024: Die neue Rollende Kirche
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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