Pietro Vernazza, Professor für Infektiologie und Chefarzt am Kantonsspital St.
Gallen ist eine der prominentesten Stimmen, die das Pandemiemanagement in der Schweiz kritisieren. Aber auch eine leise. Umso erfreulicher, dass ihm auch die Hauptmedien zunehmend Gehör schenken.
In einem Interview mit dem Tagesanzeiger vom 18. Juli sagte er u.a.:
Mit diesen Massnahmen [zur zweiten Welle| versucht man in der Schweiz, zu verhindern, dass sich das Virus einnistet. Man macht das mit der Vision, dass es irgendeinmal eine Impfung gibt, mit der man die Ausbreitung des Virus vollständig verhindern kann.
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Es ist eine ambitiöse Strategie, die der Bundesrat und auch viele andere europäische Länder verfolgen.
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Einerseits ist es sehr aufwendig, diese hohen Sicherheitsmassnahmen nicht nur ein paar Monate, sondern vielleicht über Jahre aufrechtzuerhalten. Denn es setzt voraus, dass man jeder möglichen Infektion nachgeht und Menschen in Quarantäne setzt, bis es einen brauchbaren Impfstoff gibt.
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Man könnte die Schutzmassnahmen in der breiten Bevölkerung reduzieren, damit die junge Bevölkerung nach und nach mit dem Virus in Kontakt kommt. Den älteren Menschen sollte man die Möglichkeit geben, sich besser zu schützen.
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Zunächst sollten wir die Optionen gründlich diskutieren. Ich zeige einfach auf, dass eine differenzierte Durchseuchung eine Alternative zur heutigen Ausrottungsstrategie des Bundes ist. Denn neue Studien aus dem Tessin, aus Spanien und den USA zeigen, dass zehnmal mehr Menschen mit dem Virus angesteckt wurden, als tatsächlich diagnostiziert wurden.
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Man sieht jetzt auch in anderen Ländern, dass sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit auf einen Peak hin bewegt, um dann wieder abzufallen. Dies unabhängig von der Intensität der Massnahmen.
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Es gibt starke Hinweise darauf, dass der Rückgang auch direkt mit dem Virus respektive mit unserem Immunsystem zusammenhängt. Seit rund zwei Monaten beobachten wir das Phänomen der Kreuzimmunität. Menschen, die gegen andere Coronaviren eine Immunantwort entwickelt haben, erkranken milde oder gar nicht an Covid-19. Deshalb gibt es vielleicht in der Bevölkerung schon viel mehr natürliche Barrieren, die dem neuen Virus den Weg der Verbreitung abschneiden.
Die Schweden haben nichts falsch gemacht. Ihr Modell wird vor allem von Leuten kritisiert, die ihr eigenes Modell verteidigen müssen. In Schweden gab es ja auch Einschränkungen, und mittlerweile gehen die Todesfallzahlen fast linear zurück. Der Effekt ist deutlich. Stand jetzt können wir nicht sagen, ob die Schweiz oder Schweden es richtig gemacht hat. Das können wir erst beurteilen, wenn die Bevölkerung immun gegen Covid-19 ist, mit oder ohne Impfung.
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Ich würde bedenkenlos in diesem Land Ferien machen. Schweden dürfte gar nicht mehr auf der Quarantäne-Liste des Bundes stehen. Das Land verzeichnete in den letzten 14 Tagen insgesamt noch 54 Fälle pro 100’000 Einwohner und liegt damit unterhalb der vom Bund festgelegten Grenze für Länder mit Quarantänepflicht.
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Heute wissen wir, dass 90 Prozent der Infizierten gar nie diagnostiziert wurden. Wenn wir bisher annahmen, dass die Sterblichkeit bei einem Prozent oder tiefer lag, dann ist sie mit der neuen Erkenntnis eher bei einem Promille. Damit sind wir bezüglich Sterblichkeit in der Grössenordnung der saisonalen Grippe.
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Wenn sich die Hypothese der Kreuzimmunität bestätigt, dann dürfte auch die Überwindung der Corona-Krise einfacher sein als zunächst angenommen.