In vier Wochen werden die Intensivbetten in der Schweiz überbelegt sein, wenn wir nicht scharfe Massnahmen ergreifen. Mit dieser Botschaft empfiehlt Martin Ackermann, Chef der wissenschaftlichen Covid-19-Task Force des Bundesrates und Assistenzprofessor für Ökologie mikrobieller Systeme an der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (EAWAG) eine deutliche Erhöhung der Schutzmassnahmen.
Wissenschaftliche Basis seiner Prognose ist ein Monitoring der Intensivbetten, das an der ETH unter der Leitung von Prof. Thomas van Boeckel eingerichtet wurde. Es verarbeitet Daten über die Bettenbelegung und die Entwicklung der «Fallzahlen» mit einer Modellrechnung zu Prognosen.
Die Zuverlässigkeit der Prognosen ist abhängig von der Qualität der eingespeisten Daten und der Validität der Parameter, die dem Modell zugrunde liegen, Annahmen zur Sterblichkeit zum Beispiel oder dem Schweregrad der Covid-19-Erkrankung.
Das System hat erhebliche Lücken, sowohl bei der Erfassung der Daten als auch in ihrer Modellierung.
Doppelzählungen kommen vor
Die Daten über die Bettenbelegung stammen aus dem «Informations- und Einsatz-Systems» (IES) des «Koordinierten Sanitätsdienstes» (KSD) der Schweizer Armee.
Die «Superuser» der beteiligten Institutionen speisen die Daten ungeprüft in das EIS. Dabei kommt es offenbar zu Doppelzählungen, wie die ETH in ihrer wissenschaftlichen Beschreibung des Systems selber festhält:
«In einigen Krankenhäusern war die Zahl der in das IES-System eingegebenen COVID-19-Patienten höher als die Gesamtzahl der Patienten. Ebenso war in einigen Krankenhäusern die Zahl der beatmeten COVID-19-Patienten höher als die Gesamtzahl der COVID-19-Patienten.»
«In some hospitals, the number of COVID-19 patients entered in the IES system was higher than the number total number of patients. Similarly, in some hospitals the number of ventilated COVID-19 patients was higher than the total number of COVID-19 patients.»
Hier im Original:
Wie wurde dieses Problem gelöst? Prof. van Boeckel und Ko-Autoren:
«Diese Eingaben wurden so korrigiert, dass, wenn die Anzahl der COVID-19-Patienten höher als die Gesamtzahl der Patienten war, die Gesamtzahl der Patienten als Summe der Anzahl der gemeldeten COVID-19-Patienten und der Anzahl der gemeldeten Patienten berechnet wurde.»
So wie der Satz dasteht, bedeutet er, dass die Covid-19-Patienten tatsächlich zur totalen Patientenzahl addiert statt von ihr subtrahiert wurden. Um allen Missverständnissen vorzubeugen, baten wir Prof. van Boeckel um eine Bestätigung, dass die Covid-19-Patienten zur Gesamtzahl der Patienten addiert wurden. Seine kurze Antwort: «Ja, aber nur in den Fällen, in denen die Zahl der Covid-Patienten die gemeldete Gesamtzahl der Patienten überstieg.»
Folge: Das EIS-System der Armee enthält mit Sicherheit mehr Patienten als tatsächlich vorhanden sind, ein Fehler, den das System der ETH noch verstärkt.
Alte, ungeprüfte Parameter
Mit zunehmender Datenfülle und -qualität erwies sich die Pandemie als weniger gefährlich als angenommen. Dieses Phänomen durchzieht die gesamte bisherige Pandemiegeschichte und wird inzwischen von zahllosen Studien und Statistiken bestätigt.
Die härteste Zahl, die sich durch keinen Test und keine Modellrechnung beeinflussen lässt, sind die Sterbefälle. Tot oder lebendig – da gibt es keine Alternativen.
Umso erstaunlicher ist es, dass sich das ICU-Monitoring in seinem Prognosemodell bei der «case fatality rate» – der Sterbewahrscheinlichkeit der Infizierten – auf einen veralteten Wert aus einer Modellrechnung vom April bezieht, die aus einer vorläufig publizierten Studie stammt, die ein halbes Jahr nach ihrer Veröffentlichung noch immer kein OK der Peer-Review erhalten hat.
Bei der Studie handelt sich um «Real-time modeling and projections of the COVID-19 epidemic in Switzerland» von Christian Althaus vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern. Immerhin heisst es dort: «Dieser Bericht ist work in progress und wurde nicht von einem Peer-Review geprüft. Die kurzfristigen Projektionen sind mit Vorsicht zu interpretieren.»
Gemäss dieser Studie beträgt die Sterbewahrscheinlichkeit (case fatality rate) 1,4 Prozent. Das heisst: 1,4 Prozent aller Infizierten landen in Intensivbehandlung und sterben. Althaus bezieht sich bei fünf entscheidenden Annahmen auf Modelle von Neil Ferguson vom Imperial College, die sich alle als falsch erwiesen haben. Ferguson hat seine Professur inzwischen verloren.
Die amerikanischen Centers for Disease Control (CDC) gehen aktuell (10.9.2020) von einer Case Fatality Rate von unter 0,1 Prozent aus. (COVID-19 Pandemic Planning Scenarios)
Auch völlig unbedarfte Laien können die Validität dieses Wertes anhand allgemein zugänglicher Daten überprüfen.
Gemäss Situationsbericht des BAG vom 14. Oktober infizierten sich in den Wochen 40 und 41 (28. September bis 11. Oktober 2020) 12.174, von denen jetzt, drei bis vier Wochen später, 1,4 Prozent, also 170 Menschen gestorben sein müssten. Gemäss Situationsbericht vom 26.10.2020 sind aber nur 101 Personen gestorben, eine Abweichung von immerhin 60 Prozent. (Situationsberichte des BAG für das 4. Quartal)
Weiche Daten für harte Prognosen
Die Modellrechnung für die Belegung der Intensivbetten enthält noch eine Reihe weiterer Variablen, die allesamt von individuellen medizinischen und administrativen Entscheidungen vor Ort abhängen: Art der Behandlung, Dauer, Aufnahme von nicht-Covid-19-Patienten etc. Wie schwierig es ist, aus diesen beeinflussbaren Faktoren ein Modell zu kreieren, zeigen die mathematischen Grundlagen des ICU-Monitoring.
Schwieriger ist die Bestimmung der Fehlerquote bei der Belegung der Intensivbetten, und zwar aufgrund weicher Faktoren. Uns liegt ein Bericht einer Mitarbeiterin des Spitals Bochum vor, nach dem die Steigerung der Belegung der Intensivbetten nicht auf medizinische Gründe – die Behandlungsmethoden haben sich nämlich seit Beginn der Pandemie stetig verbessert –, sondern auf finanzielle Gründe zurückzuführen ist.
Weil die Spitäler aufgrund der Pandemie breitflächig an Unterbelegung leiden und zum Teil in finanzielle Schwierigkeiten geraten (Beispiel: Nachlassstundung des Paracelsus-Spitals in Richterswil) erhöht sich der Anreiz, Patienten in wesentlich teurere Intensivpflege zu verlegen. Anfällig ist besonders die Geriatrie, wo Patienten vor ihrem Tod noch in die Intensivstation verlegt werden.
Die neuen Prognosen sind nicht besser als die alten
Fazit: Die Warnung vor einer Überbelegung der Intensivstationen durch Covid-19-Patienten beruht auf unsicheren Daten und hat eine dürftige wissenschaftliche Basis. Die Prognose dürfte nicht besser sein als die gleichlautende Warnung vom Frühjahr, die nicht zutraf.
Es ist beileibe nicht das erste Mal, dass aus der Covid-19 Science Task Force Prognosen aufgrund fehlerhafter Modellrechnungen verbreitet werden.
Prof. Jacques Fellay von der ETH Lausanne prognostizierte in einer Studie vom April für den Sommer 5000 bis 20.000 Corona-Opfer. Um auf dieses bedrohliche Szenario zu kommen, beging er zwei unbegreifliche Fehler. Er ging davon aus, dass alle Infizierten auch krank würden. Dabei wusste man schon damals, dass 50 bis 80 Prozent der Infizierten keinerlei Symptome haben (ihr Anteil ist inzwischen nochmals gestiegen). Sein zweiter kapitaler Fehler: Seiner Hochrechnung zufolge haben alle Altersgruppen dieselbe Sterbewahrscheinlichkeit. Auch damals wusste man schon, dass alte Menschen mit Vorerkrankungen den allergrössten Teil der Todesopfer ausmachten.
Die Studie von Prof. Fellay wurde weder zurückgezogen, noch musste er aus der Task Force zurücktreten. (Mehr dazu: «Modellrechnung der ETH Lausanne für eine zweite Welle in der Schweiz enthält gravierende Fehler»)
Bar jeder Wissenschaftlichkeit ist auch die Behauptung von Mitgliedern der Task Force, die aktuelle Erhöhung der «Fallzahlen» gehe auf die Sorglosigkeit der Bevölkerung im Sommer zurück. Mit anderen Worten: Das Virus verbreitete sich angeblich im Sommer und führe jetzt zu Krankheiten.
Nur: Das SARS-Cov-2-Virus zerfällt innert weniger Stunden und Tage, wenn es sich nicht in einem Wirt vermehren kann, und verliert seine Infektiosität.