Wie in den USA ist die jährliche Rede des Präsidenten zur Lage der Nation eine veritable Institution. In Südafrika heisst das Ritual SONA – State of the Nation Address. Gehalten wurde sie am 8. Februar in der City Hall von Kapstadt von Staatspräsident Cyrill Ramaphosa (African National Congress-ANC). Er kam zwar von einer Grippe zurück ans Rednerpult, aber die Rede schien ihn mindestens so zu ermüden wie die Zuhörenden. Er war physisch, aber nicht mit dem Herzen vorhanden – mit diesem gar absent.
Der Mann Ramaphosa am Rednerpult las eine Rede vor, die jemanden anderes für ihn ohne jegliches Zutun seinerseits geschrieben hatte. Bref: Er scheint kein Interesse mehr daran zu haben, das Land effektiv zu führen. Er weiss, dass er die Energiekrise, insbesondere diejenige der Stromversorgung, nicht gelöst hat, wie er es versprach zu tun. Auch weiss er, dass er die Geiselhaftnahme der staatlichen Institutionen (State Capture of SOE – Elektrizitätsgesellschaft, Bahn, Häfen, Fluggesellschaft, Post) durch korrupte Politiker nicht im Ansatz beendet hat – und es auch nicht wird. Genauso wenig hat er die Sicherheit von Südafrika verbessert – im Gegenteil.
Ramaphosa umgibt sich lieber mit immer mehr Ministern und Regierungsmitarbeitenden, Beratern und grossen und teuren Limousinen. Mit diesen Statussymbolen wahrt er – und mit ihm der ganze (noch) regierende ANC – den Anschein von Wichtigkeit, ohne die Fähigkeit, zumindest für einen genügenden Strom- und Wassersupport zu sorgen. Die Philosophie des ANC ist die des grosszügigen Verteilens von Geschenken – im besten Fall.
Den Bau oder selbst Unterhalt einer Strasse sieht die Regierung nicht etwa als ihre Pflicht an, sondern als Geschenk an die Bevölkerung. Der Bau einer Schule ist ein Geschenk, nicht dem Bildungsauftrag geschuldete Pflicht. Eine funktionierende Wasserleitung ist ein Geschenk, kein erfüllter, verpflichtender, konstitutioneller Versorgungsauftrag.
Haben die Regierenden keine Lust auf das Verteilen von «Geschenken» oder fühlen sie sich kritisiert, bekommst du nicht mal Antworten, wenn du den fehlenden Service Publique monierst. Geschenke bekommen auch nur die, die ihnen applaudieren.
Mit dieser sich selbst bedienenden Geschenkephilosophie erwarten sie viel Dankbarkeit von der Bevölkerung für – natürlich ihre Geschenke! Wer nicht fähig ist, komplexe infrastrukturelle Probleme zu managen, arbeitet mit der Taktik der Geschenke. Man kann es auch Appeasement nennen: Trösterlis. Wie zum Beispiel, dafür zu sorgen, dass die Lichter bei wichtigen Sportereignissen an bleiben. Oder einen zusätzlichen Staatsfeiertag. Insbesondere die Schwarzen glauben diesen Kack (Africans für Sch....) und der ANC hat dadurch Wahl um Wahl gewonnen, weil er die Bevölkerung mit ihren «Geschenken» sediert, währenddem seine Regierenden auf ihren primitivsten Grundrechten herumtrampeln.
Ein völlig neues Geschenk ist politisches Storytelling, offeriert von Ramaphosa bei der obenstehend erwähnten SONA. Er hat die Geschichte von Tintswalo erzählt: «Tintswalo – das Kind unserer Demokratie.» Das Mädchen Tintswalo ist 1994 geboren (als die ersten offenen Wahlen mit dem Sieg des ANC stattfanden...) Sie ist in einem ganz anderen als dem ehemaligen Apartheid-Südafrika aufgewachsen als ihre Eltern und hat das Schicksal der Familie dank des ANC positiv verändern können.
Ramaphosa unterstreicht, dass Tintswalo von freier medizinischer Versorgung für Schwangere und Kinder unter sechs Jahren profitiert hat. Sie ist in einem Haushalt mit Wasser und Strom aufgewachsen, was ihre Eltern vorher nicht hatten. Sie durfte in eine gebührenfreie Schule und an jedem Schultag bekam sie in der Schule etwas zu essen.
Neun Millionen Kinder kommen tatsächlich unregelmässig zu einem solchen Essen, 62 Prozent der Kinder wachsen in verarmten Haushalten auf. In den drei von neun Provinzen Limpopo, Eastern Cape und KwaZulu-Natal leben drei Viertel der Kinder unter der Armutsgrenze! Und die Regierung zahlte den Eltern noch eine Kinderzulage für Basisbedürfnisse («basic needs»). Dank diesem grossartigen Regierungssupport konnte Tintswalo die High School beenden. Dank eines staatlichen Stipendiums konnte Tintswalo sogar auf ein College gehen und dort einen Abschluss machen.
Man fragte sich schon während Ramaphosas Rede: Wahre Geschichte oder Fiktion? Klarheit kam von der Ministerin des Präsidialamtes (wofür wohl das gut ist?), Khumbudzo Ntshavheni, die meinte, das wäre eine Analogie des Präsidenten, um die Südafrikaner zu inspirieren....
Die Mitglieder des ANC waren ob dieser präsidialen Kreativität begeistert. Die Opposition weniger. John Steenhuisen, Präsident der stärksten Oppositionspartei Democratic Alliance (DA), zerpflückte das Geschichtlein:
«Präsident Ramaphosas Erzählung der Geschichte von Tintswalo, dem Kind der Demokratie, zeichnet sich vor allem durch eines aus: Dem eklatanten Auslassen der Tatsachen.»
In Südafrika liege die Wahrscheinlichkeit, dass Tintswalo keine Stelle findet, bei 70 Prozent. Und bei 50 Prozent, dass sie zu den 30 Millionen Südafrikanern gehören wird, die unter der Armutsgrenze leben werden. Wenn sie den Wasserhahn zu Hause öffnet, wird oft kein Wasser fliessen. Täglich, gerade als junge Frau, könne sie eines der 75 Mord- und 115 Vergewaltigungsopfer täglich werden. Sollte sie ernsthaft erkranken, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie in einem öffentlichen Spital stirbt, dass gerade keinen Strom und auch keinen Diesel für den Notstromgenerator hat.
Tatsächlich ist Fakt, dass Tintswalos Hoffnungen und Träume – und die vieler anderer junger Menschen – als Kinder der Demokratie in 30 Jahren vom ANC zerstört worden sind. Weit entfernt vom damaligen Traum des «New Dawn», des Neuanfangs, ist Südafrika nun in «a dusk of dispair» – in einer Dämmerung der Verzweiflung gefangen.
Etwas vom Toxischsten, was eine Regierung tun kann, ist sich für Selbstverständlichkeiten, sprich die konstitutionelle Erfüllung von Regierungspflichten zu feiern und fürstlich zu belohnen, aber die Vernachlässigung ebensolcher zu verdrängen oder zu verschweigen.
Da hilft auch die Geschichte von Tintswalo – dem Kind der Demokratie – nicht wirklich. Ein rhetorischer Versuch scheint’s Ramaphosa allemal wert gewesen zu sein. Spätestens die Wahlen im Mai wird sich dessen wahrer Wert zeigen.
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Dies ist der Newsletter von Marco Caimi, Arzt, Kabarettist, Publizist und Aktivist. Aus Zensurgründen präsentiert er seine Recherchen nebst seinem YouTube-Kanal Caimi Report auf seiner Website marcocaimi.ch. Caimis Newsletter können Sie hier abonnieren.