Transition News: Menschen sind nach und nach von den Demonstrationen ferngeblieben, um lieber Gemüse anzubauen. Geht es auch Ihnen darum, lieber im Kleinen zu agieren und nur auf sich selbst zu schauen?
Ulrich Gausmann: Die Frage ist nicht, worum es mir geht, sondern was passiert. Und es gibt beides: Es gibt den Protest gegen die totalitäre Gefangenschaft seit 2020. Und dann gibt es die andere Bewegung, die sich nicht nur dagegen bewegt, sondern überlegt, was man stattdessen tun kann. Und das habe ich mir in meinem Buch schwerpunktmäßig angesehen. Und das eine folgt häufig aus dem anderen.
Diese Initiativen sind auch aus den Protestbewegungen entstanden, weil irgendwann die Frage auftrat, wie es jetzt eigentlich grundsätzlich weitergeht. Denn die Kernfrage, um die sich alles dreht, ausgelöst durch die Corona-Komödie, ist die Gesundheitsfrage und daraus folgend, wie wir zukünftig leben wollen – also eigentlich eine Frage des Lebens selbst, eine existenzielle Frage.
Und das ist das Leitmotiv dieser Alternativen, dieser Parallelentwicklungen, dieser Parallelwelt: Wie leben wir gesund? Ernährung, Wohnen, woher kommt die Energie, wie wird die Natur geschützt, wie die Gesundheitsversorgung sichergestellt. Das sind die Kernfragen. Das dies auch zu grundsätzlichen Fragen führen kann, liegt auf der Hand.
Es beginnt sich eine Graswurzelbewegung zu etablieren. Und im nächsten Schritt geht es darum, diese zu Bürgerbewegungen zu entwickeln, vielleicht auch «blühende Plantagen» daraus zu machen: Also ausbauen, stabilisieren, vernetzen und natürlich erst einmal weiter bekanntmachen. Es gibt unglaublich viel Know-how und Fachkenntnisse in dieser Gesellschaft, die sich in der «Unterwelt» bewegt. Manches mag auch problematisch sein, das muss man sich kritisch angucken, aber das ist eben nur ein Teil.
In den Niederlanden zum Beispiel vertritt die Society 4.0 durchaus globale Interessen ...
Diese Society 4.0 ist ein Sonderfall. Das ist eine typische «Corona-Gründung», als Reaktion auf die Angriffe auf die Landwirtschaft und die Bauern im Rahmen des sogenannten «Green New Deals». Anfangs ist es eine Protest- und Selbstbehauptungsbewegung gewesen. Aber man kann diese spezielle holländische Bewegung, Society 4.0, auch anders lesen, wie Sie eben andeuten: Nämlich als ein willkommenes Projekt zur Umsetzung dieser regionalen Initiativen, die dann schön überschaubar, in sich geschlossen und damit auch kontrollierbar sind, sich nicht ausdehnen und sich im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft bewegen. Sie verstehen sich auch ausdrücklich nicht als Oppositionsbewegung, sondern als Bürgerbewegung. Dass diese fremde globale Interessen vertreten will, würde ich ihr nicht unterstellen. Jedenfalls habe ich dafür keine belastbaren Indizien.
Objektiv sind diese Initiativen Teil der Bewegung hin zu einem anderen Leben. Schauen Sie sich nur deren Sommerfeste an. Aber dieses Vorhaben muss sich mit einer politischen strategischen Zielsetzung verknüpfen können. Diese könnte darin münden, dass man auch an Kernfragen herankommt, wie Eigentums- und Machtfragen. Sonst wäre es tatsächlich eine willkommene Gelegenheit, die Menschen mit Solawis, dem Leben auf dem Bauernhof, dem kleinen Glück rund um den Kirchturm zu beschäftigen. Und dabei ändern sie grundsätzlich nichts – im Gegenteil – sie werden einfach noch besser kontrollierbar.
Schließlich ist es Teil der Transformationsagenda, Nationalstaaten in kleine Regionen aufzulösen …
Ja, das ist ohne Zweifel so. Es geht den Globalisten nicht um den starken Nationalstaat, sondern um globale Herrschaft, um Weltherrschaft. Und da ist natürlich der Nationalstaat im Weg. Selbstbewusste Nationalstaaten, wie man ja aktuell sieht, wehren sich gegen Teile der Agenda. Ungarn zum Beispiel oder natürlich auch die BRICS-Staaten. Auch in Afrika kommt es zu erstaunlichem Widerstand gegen den westlichen Kolonialismus.
Und das ist eine Fragwürdigkeit, die sich auch in der Parallelwelt widerspiegelt und nicht richtig reflektiert wird. Also alles, was sich um Begriffe des Kosmopolitismus rangt, wie zum Beispiel die problematische Chiffre «Menschheitsfamilie», die sehr en vogue ist, wird nicht reflektiert.
«Menschheitsfamilie» lenkt ab vom Kern der Sache, um die es hier geht: von globalen Interessen, von politischen Machtfragen, von herrschenden Blöcken und Ähnlichem. Wir sind in diesem Sinne keine Weltfamilie.
Wir sind zwar alle Homo Sapiens, aber dieser Begriff intendiert, wir hätten alle dieselben Interessen. Das haben wir nicht. Und es geht nicht um eine Human Family, sondern um eine Human Society – eine menschliche Gesellschaft. Und das ist was anderes. Und deshalb ist dieser Begriff «Menschheitsfamilie» und alles, was damit verbunden und auch vermarktet wird, problematisch und hat eine ganz merkwürdige Karriere hinter sich, die man nochmal nachvollziehen sollte.
Hadern Sie so mit dem Begriff «Menschheitsfamilie», weil damit das Wehrhafte verlorengeht?
Es wird praktisch eine Gleichheit simuliert, die so nicht existiert. Schon beim ersten oder zumindest beim zweiten Blick müsste man sehen, dass es gravierendste Unterschiede zwischen Teilen der Menschheit gibt, dass es eben auch ein Oben und Unten gibt. Es wird immer auf der horizontalen Ebene geschaut. Ich würde vorschlagen, dass man mal vertikal schaut. Also nicht nur, was links und was rechts, sondern wer oben und wer unten ist.
Dann bekommt die ganze Sache plötzlich eine ganz andere Ausrichtung. Und dafür plädiere ich, weil das den realen, tatsächlichen Verhältnissen, den ökonomischen, politischen Machtverhältnissen viel, viel näherkommt, als dieses Verkleistern hinter einem «Wir haben uns alle lieb, wir sind alle eine Familie und gute Menschen mit guten Absichten». Das mag zwar subjektiv guttun und auch gewollt sein, dagegen ist gar nichts zu sagen, aber als politische Kategorie taugt es überhaupt nicht, sondern ist hochproblematisch.
Sie weisen in Ihrem Buch darauf hin, dass sich unser Revolutionsbild zumeist an einer Vorstellung des 19. Jahrhunderts orientiert und zukünftige Revolutionen so nicht mehr stattfinden werden. Wie dann?
Das Revolutionsbild des 19. Jahrhunderts zeigt den Volkszorn: Straßenschlachten, wehende Fahnen und so weiter. Ganz früh schon hat Friedrich Engels angesichts der Niederlage der Pariser Kommune die Bemerkung gemacht, dass zukünftig Revolutionen wohl so nicht mehr vonstattengehen werden, weil die Kräfteverhältnisse unterschiedlich sind. Leo Trotzki hat sich angesichts der blutigen Auseinandersetzungen in Petrograd ähnlich geäußert.
Heute, im 21. Jahrhundert, befinden wir uns im Zeitalter der IT-Revolution. Das ist das Neue – eine neue Produktivkraft. Die IT-Revolution hat in diesem Sinne eine Bedeutung wie die Erfindung des Buchdrucks im Mittelalter. Das heißt, dass die Möglichkeiten der IT zunächst mal dazu führen, dass sich Menschen im umfassenden Sinne miteinander verbinden und darüber informieren können, was in der Welt passiert. Dieser Vorgang kann eine Bewusstseinsgemeinschaft etablieren.
In Europa wurde, als Folge der Covid-Komödie, die Gesundheitsfrage vonseiten der Menschen in den Mittelpunkt gerückt – auf diese Frage zielte ja der Hauptangriff. Die IT-Revolution hat das, was damit verbunden war, nämlich Betrug, Lügereien, Korruption und so weiter, ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Das ist auch nicht zu verhindern.
Und damit Gesundheit zu einem Anliegen, nicht nur der Mittelschichten, sondern zu einem Volksanliegen wird, braucht es weitere Schritte. Entscheidend dabei sind die Mittelschichten, die sich in den Großstädten konzentrieren.
Sie bilden laut Emmanuel Todd das «menschliche Gerüst des Staates, sein physiologisches System». Als vorgelagerte Gruppe erledigen sie in ihren Berufen die Geschäfte der tatsächlichen Player. Sie verfügen über viel bessere Informationen als die breite Masse. Wenn diese Mittelschicht erfährt, dass sie nicht geschützt, sondern ebenfalls betroffen ist – was passiert dann? Die Skepsis und der Zweifel an den Narrativen wächst ja stetig. Gerade hat Multipolar eine Umfrage veröffentlicht, wonach 40 Prozent der Befragten für einen Corona-Untersuchungsausschuss sind.
Eine wichtige Rolle spielen Intellektuelle, die sich öffentlich äußern: also exponierte Juristen, Ärzte, Journalisten und weitere. Dies führt zur weiteren Delegitimierung. Der Kampf um die Herrschaft über den öffentlichen Raum ist in vollem Gange. Es kommt dann in der Folge zu einem Phänomen, dass wir aus der Revolutionsgeschichte kennen: einer Art Doppelherrschaft.
Wie kann daraus eine reale Demokratie entstehen?
Diesen Prozess kann man bereits beobachten: Das Alte stirbt ab, und das Neue kann aber noch nicht zur Welt kommen. Wir sind in einer Übergangsphase. Antonio Gramsci hat das mal als «Interregnum» bezeichnet. Die Legitimierung des staatlichen Apparates, der in bürgerlichen Demokratien auf Konsens beruht, nimmt ab. Und wenn die Delegitimierung weiter zunimmt und auf den staatlichen Apparat überspringt, dann ist die alte Ordnung dem Untergang geweiht.
Das ist eine allmähliche Veränderung – im Unterschied zu den klassischen Revolutionsvorstellungen des 19. Jahrhunderts. Das sind strukturelle Veränderungen, die allmählich stattfinden, statt einem einmaligen Griff nach der Staatsmacht, also einem revolutionären Sturz.
Die Revolutionen des 19. Jahrhunderts waren Machtergreifungen der Bourgeoisie, des Bürgertums, zum Sturz der Adelsherrschaft. Das Bürgertum war die aufsteigende Wirtschaftsklasse, es war eine Wirtschaftsrevolution – die führende Wirtschaftsklasse hat das alte Feudalsystem abgelehnt. Das haben wir heute so nicht. Die Revolution der IT-Technik wirkt hier anders. Sie hat keine neue Klasse geboren, sondern die Menschen übergreifend miteinander verbunden. Dass dies die Machthaber fürchten, sieht man an den wütenden, drakonischen Zensur- und Löschungspraktiken, zuletzt dem Digital Service Act mit all seinen Folgen. Was früher nur die Zeitungen bewirkten, geschieht heute mit ein paar Klicks. So können verschiedene Koalitionen gebildet werden, die Druck ausüben können.
Wir haben das an den Protesten der Landwirte gesehen – dass die zunächst gestoppt wurden, ändert nichts an diesem Prozess. Inzwischen gesellen sich mittelständische Unternehmer dazu, ohne dass man jetzt über Grundsatzfragen der Zukunft, über Verfassungsentwürfe, die die Gesellschaftsform grundsätzlich ändern, sprechen muss. Als erstes muss man versuchen, sich von dieser digitalen Erpressung und diesem Totalitarismus zu befreien.
Bei der Demonstration am 3. August 2024 in Berlin hält eine Teilnehmerin ein Schild mit dem Spruch: «Wir sind die Konsequenz aus Eurer Inkompetenz»; Foto: Sophia-Maria Antonulas
Aktuell zeigt sich ein massiver Vertrauensverlust in politische Parteien, Parlamente und den Staat.
Ja, denn der Staat hat seit Entstehung des bürgerlichen Staates auch heute keine andere Funktion als seinerzeit: Seine Aufgabe ist erstens, die Rahmen- und Verwertungsbedingungen für die ökonomisch führende Klasse sicherzustellen – in Rechtsprechungen, Gesetzen, in der Organisation. Katharina Pistor hat das in ihrem ausgezeichneten Buch «Der Code des Kapitals» beschrieben: Alle Wirtschaftsgesetzgebungen sind auf den Schutz des privaten Kapitaleigentums ausgerichtet. Das ist die erste Hauptaufgabe des Staates, und die zweite ist die Herstellung von Ordnung im Inneren.
Das hat sich grundsätzlich nicht geändert. Die Staatsorgane sind heute vielfältig mit Konzernen verflochten – sie werden zum Teil direkt von diesen gesteuert. Konzerne schreiben die Gesetze, nehmen Einfluss auf die politischen Entscheidungen, in Ministerien sitzen ihre Abgesandten. Man braucht sich nur die aktuelle deutsche Ampelkoalition anzuschauen. Wir haben praktisch keine eigene autonome Wirtschaftspolitik mehr – Außen- und Verteidigungspolitik sowieso nicht, Finanzpolitik in der Folge fast auch nicht. Von daher ist es kein Wunder, dass der Vertrauensverlust in den Staat und in das, was man mit ihm synonym setzt, groß ist: Parteien, Parlamente, aber auch Verwaltungen oder Exekutive.
Und ich glaube, dass der Charakter dieses Staates immer deutlicher wird: Michael Meyen spricht vom Digitalkonzern-Staat. Die Verschmelzung von Digitalkonzernen wiederum mit der Pharmaindustrie, dem biopolitischen Komplex und der Rüstungsindustrie prägt heute den sogenannten liberalen Wertewestens.
Wie können sich kleine Initiativen, die sich – erlauben Sie mir die Polemik – um den Anbau von krummen Karotten kümmern, verbinden und gemeinsam dafür sorgen, dass der Staat wieder die Interessen der Bevölkerung vertritt?
Ich glaube, dass die Verbindung gar nicht die erste Frage ist. Zunächst geht es erst einmal um Selbstermächtigung. Dinge, auf die man Einfluss hat, die man selbst organisieren und in die Hand nehmen kann. Es geht darum, Lücken, Nischen und verwaiste Areale, die der Staat liegengelassen hat, selbst wieder zu besetzen.
Und es geht beileibe nicht nur um «krumme Karotten». Im Gesundheitsbereich zum Beispiel geht es darum, die kommunale Kontrolle über die Gesundheitsversorgung wiederzuerlangen. Diese staatliche Hoheitsaufgabe stellt sich zurzeit als Abbruchunternehmen dar – vor allem in Deutschland: Die gezielte Schließung und Privatisierung von Kliniken, die Ausdünnung der ärztlichen Versorgung bei gleichzeitiger Erhöhung der Preise für Medikamente und Versicherungsprämien.
Die kommunale Kontrolle über Arztpraxen bis hin zur Wieder-Verstaatlichung von Kliniken, verbunden mit der Aufklärung über einen gesunden Lebensstil, das steht auf der Tagesordnung. Dann kommt man automatisch in Kollision mit Behörden, die das nicht wollen. Diese Selbstermächtigung von unten löst den Irrglauben ab, dass von oben der Segen kommt. Das ist nämlich nicht der Fall, und das merken immer mehr Menschen und kommen in die Selbsttätigkeit.
Es geht also nicht um die Karotte, sondern um die Frage des Gemeinschaftseigentums und wie wir das tatsächlich organisieren: Gründung von Genossenschaften, Stiftungen, Vereinen und Strukturen bis hin zur Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Das sind echte Parallelstrukturen. Bei entsprechender Größe kommen sie in Konflikt mit dem Staat, der das alles nicht will. Aber das lässt sich nicht verhindern.
Die Gesundheitsfrage, die Lebensmittelversorgung, die Bauernmärkte oder Nahrungsergänzungsmittel sind nicht mehr Lifestyle-Themen einer begüterten bürgerlichen Schicht in den Städten, die in die Fitnessstudios oder in die Biomärkte strömen und den SUV vor der Tür parken. Das ist inzwischen eine breite Bewegung, die sich zu umfassenderen Strukturen verdichtet. Eine Bewegung auf leisen Sohlen.
Die derzeit so leise ist, weil viele die derzeitigen Machtverhältnisse nicht unbedingt ändern wollen?
Kann sein. Andererseits findet vieles lokal, im Stillen statt. Und man hört keine Berichte über sie in der Tagesschau und liest sehr wenig in der Mainstream-Presse darüber. Diese Bewegung will keine explizite «Machtergreifung» und den Staat übernehmen – diese sozialistische Strategie war ja auch häufig nicht unproblematisch. Wir sollten darüber diskutieren, wie wir der Machtfrage näherkommen. Die Parlamente sind es jedenfalls nicht allein. Rosa Luxemburg hat in diesem Zusammenhang mal von einem «revolutionärem Realismus» gesprochen.
Es geht eigentlich darum, Utopien in die Wirklichkeit zu bringen, sie wirklich real werden zu lassen. Dieses westliche System insgesamt, wenn man genauer und tiefer guckt, bietet für eine zunehmende Zahl von Menschen nicht mehr genügend Attraktivität – weltweit sowieso nicht. Der liberale Kapitalismus mit seiner Hauptbasis im Westen verliert deutlich an Anziehungskraft. Das neue Buch von Emmanuel Todd heißt zu Recht: «Der Westen im Niedergang».
Wenn wir uns ansehen, wie selbstbewusst die Menschen trotz aller Verbote und massiver Polizeigewalt inzwischen auf die Straße gehen, dann ist auch das Selbstermächtigung. Und viele Ziele, die von oppositionellen Initiativen verfolgt werden, finden sich auch in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen wieder ...
Klar. Die Nachhaltigkeitsziele der UN sind unter der Regie der UN eine Mogelpackung. Man sieht ganz deutlich, wie die vorgeblich guten Ziele missbraucht werden. Ich hätte mich sehr gewundert, wenn bei einer UN, die sich im Würgegriff der USA und des hegemonialen Westens befindet, etwas anders herausgekommen wäre.
Die 15-Minuten-Städte oder Smart Cities: Das hängt alles damit zusammen, dass es unter dem grünen Mäntelchen nichts anderes als kapitalistische Interessenpolitik und Digitalisierungszwang gibt. Es geht dabei nie um Demokratie und Menschenrechte.
Es scheint diesbezüglich auch in den einzelnen Gruppen viel Naivität zu geben.
Ja, aber viel mehr Realismus und praktisches Anpacken. Irgendwo muss jeder ja auch mit seinen Emotionen hin. Nach dem Motto: Wenn man ein gutes Anliegen hat, wird es schon gutgehen.
Mangelt es an politischer Bildung?
Wo soll die denn herkommen? Das liegt zu einem guten Teil an den heutigen Bologna-Hochschulen, wo kein kritisches Denken mehr gelehrt wird. Erfahrungen der früheren Friedensbewegung und der außerparlamentarischen Bewegung sind kaum vorhanden.
Dazu kommt, dass wesentliche gesellschaftliche Gruppen, die noch in den 1970er, 80er und 90er Jahren in der Bundesrepublik eine Rolle spielten, nicht mehr dabei sind: Bei der Friedensbewegung der 80er-Jahre waren erhebliche Teile der Gewerkschaften, der Kirchen und der Parteien dabei. Auch Teile der SPD und die Grünen waren damals noch Friedensparteien. Das fällt heute alles weg: Die Kirchen sind mehrheitlich auf Kurs, die Gewerkschaften weitgehend auch und die Parteien sowieso. Wesentliche gesellschaftliche Gruppen, die einen großen Einfluss haben, spielen nicht mit. Dazu kommt das Desaster der Linken.
Und die arbeitenden Menschen sind zu wenig repräsentiert, auch die Jugend. Das ist ein großes Problem. Dass man sich in diese Richtung bewegt, das wäre eine lohnenswerte Aufgabe. Auch auf den Mittelstand, Handwerk, Handel und so weiter zuzugehen und auf Glaubensgemeinschaften. Es gibt auch in den katholischen und evangelischen Kirchen kritische Menschen. Die würden sich am ehesten auf einer gemeinsamen Basis gegen den Krieg wiederfinden – als Friedenskoalition.
Meine Empfehlung wäre, sich mehr Information und Wissen über ökonomische Sachverhalte, auch in der Bundesrepublik Deutschland, anzueignen sowie geschichtliche Kenntnisse. Darüber gibt es auch reichlich gute Literatur.
Können Sie einige Titel nennen?
Karl Marx so viel man kriegen kann. Dann Fernand Braudel, «Die Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts». Das sind zwar 1800 Seiten, aber wenn man jeden Tag fünf Seiten liest, ist man in ein paar Jahren auch durch – es gibt auch eine Kurzausgabe. Dann Eric Hobsbawm – er ist einer unserer Besten gewesen. Aus der aktuellen Wirtschaftsliteratur gibt es eine ganze Menge: Werner Rügemers Bücher auf jeden Fall. Und «King Cotton» von Sven Beckert ist sehr zu empfehlen.
Es wäre nötig, dass man so etwas wie eine Akademie für politische Bildung aufbaut. Wir brauchen ein Fach Kapitalistik – das ist ein alter Vorschlag von Georg Fülberth –, in dem alle Disziplinen, also Ökonomie, Gesellschaftswissenschaften, Psychologie, Medizin, Philosophie und so weiter unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, in welcher Gesellschaft diese Wissenschaften und Disziplinen stattfinden. Denn schließlich ist das auch die Wirklichkeit, in der die Menschen, die diese Studien absolvieren, am Ende leben oder arbeiten müssen.
Die Ergänzung dazu wäre der Studiengang Utopistik. Immanuel Wallerstein hat das ins Gespräch gebracht. Und die Utopistik würde sich damit beschäftigen, was es bereits an utopischen, alternativen Gesellschaftsentwicklungsvorschlägen und -maßnahmen gibt.
Von mir stammt auch die Idee einer «Utopie-Konferenz», um Theorie, praktisches Tun, politische Bildung und Kultur zu verknüpfen. Das Motto «Nur noch Utopien sind realistisch», ist von Oskar Negt entlehnt, der vor Jahren ein Buch unter diesem Titel veröffentlicht hat. Musik, Literatur, Malerei sollten auch ihren Platz haben.
Was es braucht, ist eine linke Akademie kombiniert mit «Utopie-Konferenzen». Rechte Narrative gibt es ja zur Genüge.
Wir sehen auch heute, dass Themen der eigenen Selbstoptimierung in die Gegenbewegung eingebracht werden, um die Gemeinschaft zu schwächen. Wie kann verhindert werden, dass jeder sich nur mit sich selbst beschäftigt?
Ja. Auch eine alte Neigung. Dem müsste man Aufklärung entgegensetzen. Es ist auch allzu menschlich: Wenn man ein kleines Stück selber geschaffen hat, beispielsweise einen Gemüsegarten, dass einem das reicht. Da fährt man jede Woche hin und baut sein Gemüse an. Nicht jeder ist gewohnt, politische Aktionen zu starten.
Da wäre die Aufgabe derer, die ein bisschen weiter sind, behilflich zu sein und zu zeigen: «Schau mal, ich denke folgendes über die Zukunft. Das sind meine Vorstellungen. Vielleicht helfen dir meine Ideen weiter.» Damit man ins Gespräch kommt und das ein bisschen weitertreibt. Aber nicht im Sinne von «Abholen» – das ist keine gute Idee: Ich hole ein Paket von der Post oder jemanden vom Bahnhof ab. Politisch gedacht, ist das besserwisserisch.
Es geht vielmehr darum, jemanden dabei zu unterstützen, sich selbst einen Kopf zu machen, und ihm Beispiele zu geben. Meine Entwicklung hat davon gelebt, als ich 20 war und von der Welt nichts verstanden habe, dass ich Menschen hatte, an denen ich mich orientieren konnte. Auch aus der Kulturszene: Die Künstler haben meine Gedanken auf den Punkt gebracht, in Lieder und Texte gepackt. Sie haben mich animiert weiterzusuchen. Da hat mich niemand an die Hand genommen, mich unterrichtet oder unterwiesen. Aber ich hatte eben Ansprechpartner.
Die Menschen kommen früher oder später darauf, wer ihren Interessen im Wege steht. Dann werden sie plötzlich diffamiert oder es heißt, dass wäre eine rechtsoffene Bewegung. Sie stehen plötzlich da und wundern sich: Was habe ich damit zu tun? Ich will doch nur etwas Gutes. Und schon ist man in der Diskussion.
Und welche Musiker hatten großen Einfluss auf Sie?
Franz Josef Degenhardt und Hannes Wader zum Beispiel. Dieter Süverkrüp, Maria Farantouri, Mikis Theodorakis waren wichtig. Oder auch Joan Baez – ihre Musik hat der Friedensbewegung noch mal einen richtigen Schub gegeben.
Auch die Globalisten sagen, es würde ihnen um Gesundheit gehen. Wo sehen Sie da den Unterschied zur Gesundheitsbewegung?
Das, was die Globalisten damit wollen, ist Herrschaft. Herrschaft der Pharmakonzerne, der IT-Konzerne, Kontrollwahn und so weiter. Was ich meine, ist die Sorge um sich selbst, wieder Selbstverantwortung. Wir haben auch nur die berühmte eine Gesundheit, soweit ich weiß, haben wir auch nur ein Leben.
Es geht darum, die Lebensverhältnisse der Menschen so zu gestalten, dass sie lebenswert sind. Dazu gehört auch, dass sie gesund sind, ein gesundes Dach über dem Kopf haben, gesundes Wasser zur Verfügung haben und ausreichend Energie, die möglichst umweltschonend und bezahlbar ist. Das kann man doch sehr gut nachvollziehen.
Der Markt für Nahrungsergänzungsmittel und Gesundheitsangebote im weitesten Sinne hat enorm zugenommen – man hat manchmal den Eindruck, ganz Deutschland besteht zur Hälfte aus Coaches und die andere Hälfte sind Heiler. Das ist nur ein Reflex auf das, was tatsächlich passiert. Vor 20 Jahren ist das als Massenbewegung undenkbar gewesen. So problematisch das im Einzelfall auch ist, aber es geht um den Trend, um den Prozess, der da gerade in der Gesellschaft stattfindet.
Wie kommen wir weg von der Ich-Bezogenheit, auch was die Gesundheit betrifft, hin zur Eigentums- und Machtfrage?
Die schwerste Frage. Vielleicht hilft es, wenn wir zunächst herausfinden, warum wir das noch nicht geschafft haben: Wie können die augenblicklichen Strukturen stabilisiert und zu einem Anliegen größerer Teile der Bevölkerung verbreitert werden? Dabei kommen wir sehr schnell zu Eigentumsfragen.
Wir müssen über einen Mix von Eigentumsformen reden, die in die heutige Zeit passen.
Es gibt zum Beispiel in Kassel das Allmendeland-Projekt. Das ist eine Gesellschaft, die gezielt landwirtschaftliche Flächen aufkauft, um sie den Großinvestoren zu entziehen. Sie verpachtet sie an Bauern zurück, mit der Auflage, Lebensmittel in Demeter-Qualität zu produzieren. Das kann gerne auch an anderen Orten geschehen.
Ich halte auch Vorträge zu diesem Thema «Mein und Dein: Wege zum Gemeinschaftseigentum». Dabei geht es darum, wie man sein persönliches Vermögen schützen und daraus ein gemeinschaftliches Eigentum machen kann. Es scheint, die Rettung liegt dann doch in der sozialen Gemeinschaft und nicht im Alleingang. Gemeinsam ist man stärker.
Ist das dann die «Bewusstseinsklasse», von der Sie schreiben?
Man weiß aus Untersuchungen und Wahrnehmungen, dass die Risse und Zweifel im Staatsapparat selber zunehmen – in den Verwaltungen, bei der Polizei. In meinem Buch schildere meine Bewusstseinstheorie ausführlich im Schlusskapitel «Die Revolution von unten». Es entsteht eine Bewusstseinsklasse, die ihre Ursachen nicht in der ökonomischen Situation hat, sondern in der Verallgemeinerung und Vergesellschaftung über die IT-Technologie. Eine IT, die nicht nur Gefahren, sondern auch solche Möglichkeiten bietet: Der sogenannte Arabische Frühling war wesentlich über das Internet organisiert. Und das war davor nicht möglich.
Wird es auch weiterhin gelingen, die Zensur zu umgehen?
Schon jetzt sehen wir eine Alternativentwicklung im Bereich Internet, Intranet und Open-Source-Lösungen. Genau hier verläuft die Kampflinie: Es geht um die Oberhoheit über die Daten. Das ist die Währung, nicht Gold, Silber, Öl und Gas. Wer die Daten und die Herrschaft darüber hat, also die IT-Technologien, die Plattformen und auch die Überwachung – die Geheimdienste sind daran wesentlich beteiligt –, der kann das dirigieren. Aber es gibt immer Gegenbewegungen. Ob wir es schaffen können, das wird sich zeigen. Ich bin guter Dinge.
Aber: Alles unter Friedensvorbehalt. Wenn die mit Atomwaffen tatsächlich Ernst machen, dann haben wir eine völlig neue Situation. Aber auch das ist noch nicht so weit. Es steht auf Messerschneide, das ist wohl so. Es gilt, die Kriegsgefahr in den Griff zu bekommen.
Ihre Recherchen zu alternativen Initiativen fanden 2022 statt. Hat sich seit damals die Qualität dieser Bewegung verändert?
Seither sind die akuten Proteste um alles, was das Impfen angeht, abgeflaut. Die großen Demonstrationen in Berlin oder die Montagsspaziergänge haben abgenommen. Das war auch zu erwarten, wenn man immer gegen etwas ist, das dann aus dem Verkehr gezogen und durch neue Themen ersetzt wird – das ist das Schicksal von solchen Initiativen. Stattdessen haben sich in größeren Teilen der bundesrepublikanischen Gesellschaft Strukturen etabliert, die in dem Bereichen Wohnen, Lebensmittelversorgung, gesundheitliche Versorgung, Schule, Bildung konkret anfangen. Die sind alle noch minoritär, aber sie gibt es. Sie haben neue Themen: Wie machen wir das weiter. Und, anstatt dagegen zu sein, überlegen sie, wofür sie einig sind. Das hat sich verändert. Außerdem gibt es einen gewissen Wiederaufschwung der Friedensbewegung.
Es sind nach meiner Wahrnehmung weitere Bereiche der Gesellschaft angezogen worden. Und zwar über die konkreten Anliegen, Lebensmittel zum Beispiel oder Wasserversorgung. Auch die Energiewende-Dörfer finden ein großes Interesse. Und mittelständische Unternehmer beginnen sich zu organisieren.
Es geht also hin zu realen Utopien?
Ja, ohne Einschränkung. Von Umsetzungen zu Bewusstseinsveränderungen und umgekehrt. Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch – dafür müssen sich die Theorien bewähren.
Und ich denke, es wird eine Renaissance der Genossenschaften geben. Die ganze Genossenschaftsszene hat sich sehr differenziert. Diese Megagenossenschaften in der Weimarer Republik gibt es immer noch, aber daneben gibt es viele kleine. Das ist im Zug der Zeit. Das müsste man in jedem Fall unterstützen.
Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas.
Kommentare