In England leben Millionen Kinder unter Bedingungen, die einer modernen Gesellschaft unwürdig sind – das zeigt ein neuer Bericht der Kinderkommissarin Dame Rachel de Souza, wie der britische Guardian diese Woche meldete. Die Kommissarin spricht von einem «nahezu Dickens’schen» Maß an Armut, benannt nach dem Schriftsteller Charles Dickens, der im 19. Jahrhundert das Elend der Arbeiterkinder literarisch festhielt. Heute, so de Souza, sei es keine Fiktion mehr: Kinder in einem der reichsten Länder der Welt schlafen in verschimmelten Schlafzimmern, leben mit Ratten hinter den Wänden, haben oft kein warmes Wasser zum Duschen und teilen sich Betten mit Geschwistern.
Viele der betroffenen Kinder äußerten in Interviews, dass ihnen grundlegende Dinge fehlen – ein sicheres, trockenes Zuhause, ausreichend Essen, Kleidung, ein Ort für Hausaufgaben oder einfach Privatsphäre. Die Kommissarin warnt:
«Diese Zustände sind nicht nur Ausnahmen. Sie werden von Kindern zunehmend als normal empfunden.»
Genau das sei das Gefährliche – dass junge Menschen ihre Rechte und Bedürfnisse herunterschrauben und beginnen, Armut als gegeben hinzunehmen.
Eine der Hauptursachen für die verbreitete Kinderarmut sieht de Souza in der sogenannten Zwei-Kinder-Regel (two-child limit). Diese Regelung wurde 2017 von der damaligen konservativen Regierung eingeführt und besagt, dass staatliche Sozialleistungen – konkret das Kindergeld (Child Tax Credit) und der Universal Credit – nur für die ersten beiden Kinder einer Familie gezahlt werden. Universal Credit ist ein zusammengefasstes Sozialleistungssystem, das mehrere frühere Einzelleistungen ersetzt und einkommensschwache Haushalte unterstützen soll.
Das Problem: Familien mit drei oder mehr Kindern erhalten für das dritte und weitere Kind keine zusätzlichen Zahlungen – selbst wenn sie sich in prekären Lebenslagen befinden. Laut Schätzungen der Child Poverty Action Group werden durch diese Regelung jeden Tag rund 109 Kinder zusätzlich in Armut gedrängt.
Diese Armut ist laut Definition «relativ» – was bedeutet, dass betroffene Familien im Vergleich zum gesellschaftlichen Durchschnitt signifikant weniger Einkommen zur Verfügung haben und sie sich daher vieles, was andere für selbstverständlich halten, nicht leisten können. Dazu zählen gesunde Lebensmittel, angemessene Kleidung, Heizkosten oder Verkehrsmittel für den Schulweg. Der Begriff relative Armut grenzt sich von absoluter Armut ab, bei der das physische Überleben nicht mehr gesichert ist – etwa durch Hunger oder Obdachlosigkeit. Doch auch relative Armut kann sich massiv auf die Entwicklung, Bildungschancen und psychische Gesundheit von Kindern auswirken.
Laut offiziellen Zahlen lebten im Jahr bis April 2024 rund 4,5 Millionen Kinder im Vereinigten Königreich in solchen Armutsverhältnissen – ein neuer Höchststand. Dennoch zögert die neue Labour-Regierung mit entschlossenen Maßnahmen. Die von ihr angekündigte Strategie gegen Kinderarmut wurde auf den Herbst verschoben. Gleichzeitig deutete Bildungsministerin Bridget Phillipson an, dass finanzielle Zwänge der Abschaffung der Zwei-Kinder-Grenze im Wege stehen.
Eine Studie des Institute for Fiscal Studies hat errechnet, dass deren Aufhebung den Staat jährlich rund 3,4 Milliarden Pfund kosten würde – gleichzeitig aber 500.000 Kinder aus der Armut holen könnte.
Die Kinderkommissarin fordert nun eine umfassende Neuausrichtung der Politik. Neben der Abschaffung der Zwei-Kinder-Regel verlangt sie ein sogenanntes Triple Lock für kinderbezogene Leistungen. Das bedeutet: Kindergeld und andere Unterstützungen sollen jährlich mindestens um die Inflationsrate, die durchschnittlichen Löhne oder einen festen Mindestwert steigen – je nachdem, was höher ist. Damit würden die Leistungen der realen Preisentwicklung angepasst und Familien vor Kaufkraftverlust geschützt.
Zudem fordert sie, dass kein Kind länger als sechs Wochen in Notunterkünften untergebracht werden darf, wie es derzeit häufig der Fall ist. Ebenso schlägt sie kostenlosen Busverkehr für alle Schulkinder vor, um Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung zu fördern.
Auch Schulen schlagen Alarm. Der Vorsitzende der Schulleitungsgewerkschaft NAHT, Paul Whiteman, erklärte, viele Schulen seien inzwischen zu inoffiziellen Sozialstationen geworden: Sie betrieben Lebensmittelbanken, versorgten Familien mit Kleidergutscheinen und ermöglichten Kindern sogar das Waschen ihrer Kleidung vor Ort. Das Engagement sei beeindruckend – aber auf Dauer nicht tragbar, warnte er.
«Die Ursachen für Kinderarmut liegen nicht im Klassenzimmer, sondern in der Politik.»
Die Botschaft des Berichts ist eindeutig: Wenn es in einer Gesellschaft zur Normalität wird, dass Kinder in nassen, kalten Zimmern schlafen und hungrig zur Schule gehen, dann ist nicht nur ein soziales, sondern ein moralisches Versagen eingetreten. In den Worten der Kommissarin:
«Wer in einer so reichen Nation Verantwortung trägt, sollte sich schämen, dass ein Kind sein Leben vom Einkommen seiner Eltern diktiert bekommt.»