Das Coronavirus sei eine grosse, aber nicht die einzige Gefahr, die uns derzeit drohe, sagt der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari in einem Gespräch mit t-online. Er befürchtet im schlimmsten Fall sogar den Kollaps unserer aktuellen Weltordnung.
Der Menschheit drohe jetzt die totale Überwachung. Was heute noch wie Science-Fiction klinge, könnte schon bald Wirklichkeit werden – und dabei könnte es nicht bleiben.
Er nimmt auch Bezug auf Gedanken, die er in seinen früheren Büchern detailliert beschrieben hat. Er hält es beispielsweise für denkbar, dass sich die Menschheit angesichts des dramatischen technologischen Fortschritts aufspalte: in wenige Privilegierte, die alle Reichtümer und Vorteile neuer Technologien nutzen können, und in eine riesige «nutzlose Kaste» von Menschen, die irgendwann aus dem Lauf der Geschichte verschwinde.
Zur «Corona-Pandemie» meint Professor Harari, dass diese historisch gesehen nicht so gefährlich sei, wie die Seuchen früherer Zeit. Besonders an der aktuellen Situation seien die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen. Im schlimmsten Fall könnten sie zum Kollaps unserer Weltordnung oder zumindest zu einer weiteren Destabilisierung führen.
Die Menschheit verständige sich derzeit darauf, einen Grossteil ihres Lebens online zu verbringen. Das habe Vorteile, berge aber auch eine Gefahr: Im schlimmsten Fall würden sich die Menschen in fünfzig Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begonnen habe.
Angesichts der Corona-Epidemie könnten auch die liberalen Demokratien ihre Abneigung gegen die Überwachung ihrer Bürger ablegen. Eine 24-Stunden-Kontrolle sei in unserer zunehmend digitalen Welt überhaupt kein Problem mehr. Harari ist sich nicht sicher, ob dieses Szenario eintreten werde. Aber er hat die Befürchtung, dass die totale Kontrolle eine Folge der Corona-Krise werden könnte. Viele Dinge, die im Westen noch vor einem Jahr undenkbar waren, seien durch die Pandemie nun auch dort plötzlich akzeptabel geworden – beispielsweise:
- die Speicherung von Gesundheitsdaten
- die Angabe von Namen und Adressen, wenn man ein Restaurant besucht
- die Vorschrift, wie viele Menschen man zu einer privaten Feier zu sich nach Hause einladen darf
Überwachung per se sei nichts Schlechtes. Überwachung sei die beste Verteidigung gegen Epidemien. Früher sei nur eine oberflächliche Kontrolle der Menschen möglich gewesen, aber unsere heutigen technologischen Möglichkeiten gingen viel weiter. Sie können wortwörtlich in die Körper der Menschen blicken und feststellen, ob jemand krank ist.
In China würde das bereits praktiziert, dort speicherten Apps die wichtigsten Gesundheitsdaten der Bürger, und der Staat könne sie auslesen und massenhaft vergleichen. Vordergründig sei das praktisch: Je früher eine Epidemie entdeckt werde, desto einfacher lasse sie sich stoppen. Aber wir müssten vorsichtig sein: Was in einer Weltregion ausprobiert werde, werde irgendwann auch in andere Regionen vordringen. Die totalitäre Versuchung sei in Zeiten von Corona gross.
China werte seine Strategie gegen Corona als Erfolg. Es sei also damit zu rechnen, dass das Regime die angewandten Methoden verfeinere, ausweitete und auch in andere Länder übertrage. Eine ständige biometrische Überwachung der Bevölkerung würde es erlauben, auch andere Gefahren als Covid-19 zu entdecken. Etwa die alljährliche Grippe oder Krebserkrankungen.
Vom gesundheitspolitischen Standpunkt her gesehen sei das eine positive Entwicklung. Die entscheidende Frage sei, wie mit dieser Verantwortung umgegangen werde. Denn vollständige Überwachung könne eben nicht nur zur Verbesserung der Gesundheitsvorsorge genutzt werden, sondern auch für eine lückenlose Kontrolle aller Menschen weltweit.
Wir seien heute in der Lage, die perfekte Diktatur zu errichten. Es wäre ein autoritäres Regime, wie es dieser Planet noch nicht gesehen habe. Eine Diktatur, die schlimmer wäre als Nazideutschland oder die Sowjetunion unter Josef Stalin, sei heute denkbar.
Man brauche keinen Spion mehr auf der Strasse, der die Menschen überwache. Stattdessen gebe es Kameras, Mikrofone oder Sensoren. Die Auswertung der Datenmengen könne eine Künstliche Intelligenz übernehmen, die sogar berechnen könne, wie sich ein Überwachter in Zukunft wahrscheinlich verhalten werde.
Zum ersten Mal in der Geschichte sei totale Überwachung möglich. Man könne mehr über die Menschen erfahren, als sie selbst über sich wüssten. Das sei die eigentliche Gefahr, die die aktuelle Krise mit sich bringe: Dass die digitale Überwachungstechnologie durch die Gesundheitskrise weltweit legitimiert werde – auch in demokratischen Gesellschaften, die sich zuvor der Überwachung widersetzt hätten.
Hariri: Nehmen wir an, die Corona-Lage verschärft sich nun weiter. Oder irgendwann gibt es eine andere gefährliche Pandemie. Dann könnten Regierungen und Bürger vor die Wahl gestellt werden: Entweder man macht einen erneuten Lockdown, die Wirtschaft leidet massiv, und im schlimmsten Fall verlieren Sie so wie Tausende andere Menschen Ihre Arbeit. Oder Sie willigen ein, dass der Staat Sie ab sofort vollständig überwachen darf, um bei einem Kontakt mit einem Infizierten sofort einschreiten zu können. Wie würden Sie sich entscheiden?
Hariri beschreibt im Verlaufe des Interviews schliesslich noch die Macht des Erzählens von Geschichten:
Nicht die Neandertaler, nicht die Schimpansen oder andere Spezies kontrollieren diese Welt, sondern wir. Und zwar deshalb, weil wir in viel grösserer Zahl zusammenarbeiten können als andere. Aus diesem Grund waren wir in der Lage, Kathedralen zu errichten und Kreuzzüge zu führen. Die Basis für diese Form der Zusammenarbeit sind fiktive Geschichten, und die Religionen sind dafür das beste Beispiel. Sie werden niemals eine Million Schimpansen überzeugen können, gegen andere «böse» Schimpansen am anderen Ende der Welt in einen Heiligen Krieg zu ziehen – mit der vagen Aussicht, im Fall ihres vorzeitigen Ablebens im Himmel einen Haufen Bananen zu erhalten. Bei uns Menschen ist das anders. Wir erfinden Geschichten, und wir setzen sie ein, um andere Menschen an uns zu binden und von unseren Ideen zu überzeugen.